Der Radfahrer-Fall: Man sollte nie zu lässig radeln. Oder fahren!

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Dass Autofahrer:innen und Fahrradfahrer:innen im Straßenverkehr nicht besonders gut miteinander klarkommen, ist nichts Neues. Für beide Parteien ist die jeweils andere Seite immer an allem schuld. Beim Radfahrer-Fall, der bereits 1957 vom BGH entschieden wurde, ist das aber gar nicht so einfach zu ermitteln. Der Fall gehört zu einem der juristischen Klassiker des Strafrechts. Er begegnet angehenden Jurist:innen im Rahmen der fahrlässigen Tötung bei der Frage nach dem rechtmäßigen Alternativverhalten.

Kling kompliziert? Ist es aber überhaupt nicht. Dem Fall liegt folgender Sachverhalt zu Grunde. Im Jahr 1957 überholte ein Lastwagenfahrer einen Radfahrer auf einer geraden und übersichtlichen Straße mit einer Geschwindigkeit von 26 bis 27 km/h. Die Fahrbahn war etwa 6 m breit. Der Seitenabstand des Lastwagens zum linken Ellbogen des Radfahrers betrug dabei etwa 75 cm. Während des Überholvorganges geriet der Radfahrer mit dem Kopf unter die rechten Hinterreifen des Anhängers, wurde überfahren und war auf der Stelle tot. Eine später der Leiche entnommene Blutprobe ergab einen Blutalkoholgehalt von 1,96 Promille für den Zeitpunkt des Unfalls. Vor Gericht stellte sich sodann die Frage, ob sich der LKW-Fahrer wegen fahrlässiger Tötung gem. § 222 StGB strafbar gemacht hatte.

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Wenig Abstand & Alkohol – Keine gute Kombination

Das Schöffengericht Rheine/Westf. verurteilte den Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung. Auf die Berufung des LKW-Fahrers hob die Strafkammer des Landgerichts Münster das Urteil auf und verhängte gegen den Mann lediglich eine Geldstrafe, weil er mit zu geringem seitlichen Abstand überholt hatte (§§ 1, 49 StVO). Doch damit war die Staatsanwaltschaft nicht einverstanden und legte Revision zum Oberlandesgericht Hamm ein. Dieses wiederum legte die Sache gem. § 121 II GVG dem BGH vor

Nach § 222 StGB wird bestraft, wer den Tod eines Menschen durch Fahrlässigkeit verursacht. Die Frage ist also, ob der mangelnde Abstand beim Überholvorgang die Ursache dafür war, dass der Radfahrer unter die Räder kam. Der Leitsatz des BGH lautet folgendermaßen. „Als ursächlich für einen schädlichen Erfolg darf ein verkehrswidriges Verhalten nur dann angenommen werden, wenn sicher ist, daß es bei verkehrsgerechtem Verhalten nicht zu dem Erfolg gekommen wäre. Allerdings steht der Bejahung der Ursächlichkeit die bloße gedankliche Möglichkeit eines gleichen Erfolgs nicht entgegen; vielmehr muß sich eine solche Möglichkeit auf Grund bestimmter Tatsachen, die im Urteil mitzuteilen und zu würdigen sind, so verdichten, daß sie die Überzeugung von der an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit des Gegenteils vernünftigerweise ausschließt.“

Problematisch ist im vorliegenden Fall aber, ob zweifelsfrei feststeht, dass der Radfahrer bei einem rechtmäßigen Alternativverhalten des LKW-Fahrers noch leben würde. Wäre der Radfahrer also nicht vom LKW überrollt worden, wenn der LKW-Fahrer den Sicherheitsabstand eingehalten hätte?

Wäre der Unfall auch bei ausreichendem Sicherheitsabstand passiert?

Zur Frage des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs innerhalb der objektiven Zurechnung existieren zwei Ansichten. Nach der herrschenden Meinung ist der Erfolg dann unvermeidbar, wenn es ernsthaft möglich gewesen ist, dass der Erfolg auch bei sorgfaltsgerechtem Verhalten des Täters eintritt. Sie verfolgt den Grundsatz „in dubio pro reo“, also im Zweifel für den Angeklagten. Wenn man mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sagen kann, dass der Radfahrer auch bei ausreichendem Sicherheitsabstand gestorben wäre, so ist im Zweifel für den Angeklagten zu entscheiden.

Nach der Risikoerhöhungslehre erfolgt die Zurechnung des Erfolgs bereits dann, wenn der Erfolgseintritt bei einem sorgfaltsgerechten Verhalten „unwahrscheinlicher“ gewesen wäre. Jedoch wird durch diese Ansicht der Grundsatz „in dubio pro reo“ stark eingeschränkt.

Im vorliegenden Fall mussten sich die Richter:innen also unter anderem mit der starken Alkoholisierung des Radfahrers auseinandersetzen. „Die unbedingte Fahruntüchtigkeit des Radfahrers infolge hohen Blutalkoholgehaltes, eine dadurch bewirkte starke Minderung seiner Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit, die in Übereinstimmung mit einem Sachverständigen bejahte Wahrscheinlichkeit, daß der Radfahrer das Fahrgeräusch des Lastzuges zunächst nicht wahrnahm, dann plötzlich, als er seiner inne wurde, heftig erschrak, besonders stark reagierte und dabei völlig ungeordnet und unvernünftig sein Fahrrad nach links zog, [ist] eine Verhaltensweise, wie sie für stark angetrunkene Radfahrer typisch sei.“

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Unschuldsvermutung “in dubio pro reo” hier ausschlaggebend

Wäre der Mann auf Grund seiner alkoholbedingten Einschränkungen auch unter den LKW geraten, wenn der LKW-Fahrer den Sicherheitsabstand eingehalten hätte? Die Richter:innen in Karlsruhe entschieden hier zu Gunsten des Angeklagten.

Dazu führt der BGH aus: Natürlich war die Fahrweise des Angeklagten eine Bedingung im mechanisch-naturwissenschaftlichen Sinn für den Tod des Radfahrers. Damit ist aber nicht gesagt, daß die in seinem Verhalten steckende Verkehrswidrigkeit, das zu knappe Überholen, für die Herbeiführung des Tötungstatbestandes gemäß § 222 StGB im strafrechtlichen Sinne ursächlich war. Das vom Schuldgrundsatz beherrschte Strafrecht begnügt sich nicht mit einer rein naturwissenschaftlichen Verknüpfung bestimmter Ereignisse, um die Frage nach dem Verhältnis zwischen Ursache und Erfolg zu beantworten.

Weil man im Radfahrer-Fall also nicht zweifelsfrei bestimmen konnte, ob der Radfahrer bei pflichtgemäßem Alternativverhalten des LKW-Fahrers noch leben würde, ist der Angeklagte aufgrund der Unschuldsvermutung nicht wegen fahrlässiger Tötung nach § 222 StGB zu bestrafen.

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Die wichtigsten Definitionen zur Fahrlässigkeit könnt Ihr Euch kostenlos bei unserem Kooperationspartner Jurepeat anhören. Auf Spotify, Apple Podcast und Anchor. Auch der Radfahrer-Fall wird in dieser Folge besprochen:

“JURios-Klassiker”: Weitere Fallbesprechungen


Entscheidung: BGH, Urteil v. 25.09.1957, Az. 4 StR 354/57

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