Eine Schreibgruppe in der JVA – Kann das gutgehen?

Vor vielen Jahren, damals, vor der Ära meines Jurastudiums, bot ich einen Sommer lang eine kreative Schreibgruppe in der Justizvollzugsanstalt an. Genauer gesagt, saß ich einmal pro Woche eine Stunde lang mit ein paar jungen Männern in ihrem Aufenthaltsraum der Jugenduntersuchungshaft zusammen und gab ihnen kurze Schreibaufgaben.

Wie kommt eine junge Frau Anfang 20, die mit Themen wie Gefängnis, Justiz und Jugendkriminalität bis dahin kaum bis gar nicht in Berührung gekommen war, auf die Idee, so etwas anzubieten? Mein Gehirn ist ein sehr aktives Organ, das sich zu diesem Zeitpunkt nach meinem abgebrochenen Germanistikstudium insbesondere mit Sorgen befasste, deren Sinnhaftigkeit durchaus fraglich waren. Wie sollte es denn jetzt in meinem Leben weitergehen? Ohne Abschluss bin ich bestimmt nichts wert, aber wenn ich nichts wert bin, wird mich niemand lieben, und wenn mich niemand liebt, sterbe ich einsam und alleine. Aber was steht denn dann auf meinem Grabstein? Wie viel kostet ein Grabstein überhaupt und wie soll ich einen finanzieren, wenn ich es zu nichts bringe? Ich schrieb dann verstörende Geschichten, um mich von solchen kreisenden, einengenden Gedanken zu befreien und dachte mir: Wie muss das denn sein, wenn man tatsächlich gefangen ist?

Wie ist das, wenn man tatsächlich gefangen ist?

Da ich wenig Impulskontrolle habe, schrieb ich der zuständigen JVA Sozialarbeiterin von meiner Idee, eine kreative Schreibgruppe für junge Männer in Untersuchungshaft anzubieten. Warum sollte ihnen nicht helfen, was mir half? Die Idee stieß auf großes Interesse und gefühlt wenige Tage später wurde ich von einem Justizvollzugsbeamten mit großem Schlüsselbund durch einen Sicherheitscheck mit Metalldetektoren geführt. Daraufhin lernte ich meine Gefängnisjungs kennen, mit denen ich im Laufe der nächsten Monate über den Gefängnisalltag, Drogenkonsum und Mopeds sprach. Sie erklärten mir, wie sie sich mit Kugelschreiber selbst Tattoos stachen und sie dann bereuten; sie malten mir arabische Sprüche auf den Arm; sie beklagten, dass Drogen sie von ihren Familien weggenommen hätten, erklärten, dass sie Straftaten aus Wut und Trauer um Familienmitglieder begangen hätten, da Selbstjustiz für sie manchmal der einzige Weg sei, um sich emotional über Wasser zu halten.

Sie schrieben Geschichten über griechische Götter, über Blumensträuße, die zur Fluchtfinanzierung auf dem Schwarzmarkt verkauft werden. Sie hielten spontane, informative Kurzvorträge darüber, dass man nicht von alten Menschen klauen dürfe, da sie sich nicht wehren könnten – Ethik und Gerechtigkeit wurden anhand persönlich erlebten oder begangenen Praxisbeispielen erläutert. Ab und zu wurde auch gestritten, aber man müsse sich wieder beruhigen, man hätte schließlich eine Frau zu Gast.

Schlaue, witzige, aufgeschlossene junge Männer

Wie konnte es sein, fragte ich mich, dass diese schlauen, witzigen, aufgeschlossenen jungen Männer in Untersuchungshaft saßen und erzählten, wie erniedrigend die Ganzkörperuntersuchung bei der Ankunft in der JVA sei? Wie sie kein Tagebuch führen könnten, weil ihre Zellen durchsucht wurden, während sie Gerichtstermine wahrnahmen? Dass sie nur deshalb in Untersuchungshaft landeten, weil sie alleine nach Deutschland gekommen seien oder die Eltern schon abgeschoben wurden und sie deshalb alleine hier leben und man daher davon ausging, sie würden sich vor ihrer Verhandlung drücken? 

Nach und nach stellte ich das Gefängnissystem mehr und mehr in Frage, mein Gehirn arbeitete weiter. Ich müsste doch irgendwie in diesem Bereich arbeiten, um selbst darauf einwirken zu können. Aber mich würde doch niemand ernst nehmen, wenn ich nicht studiert habe. Ich erzählte meinen Arbeitskollegen von meinem Schreibkurs, sie mahnten zur Vorsicht, da Gefangene gefährlich seien. Ich hob die Augenbrauen und fragte mich, woher sie das eigentlich zu wissen meinten. Als Trotzreaktion gab ich den Jungs meine Adresse, damit sie mir Briefe schreiben konnten. Ich antwortete, ich malte ihnen Bilder, sie schickten mir welche zurück. Die Sozialarbeiterin rief mich in ihr Büro, ob das mit der Adresse wirklich eine gute Idee sei, sie habe das in 30 Jahren sozialer Arbeit nie gemacht, Grenzen ziehen sei wichtig. Recht hatte sie, da bin ich mir sicher. Ich schaute beschämt auf meine Hände herunter und nickte.

Jurastudium: Fünf Jahre Ambivalenz

Aber naja, was soll’s, Impulskontrolle hatte ich immer noch nicht, wie wäre es mit einem Juraabschluss? Wie wäre es mit fünf Jahren Studium, in dem Diskussionen über Themen wie strukturelle Ungleichheiten ein Schattendasein führen? Was ist eigentlich mit dem gutgläubigen Erwerb des Werkunternehmerpfandrechts? Ist der Bebauungsplan rechtmäßig? Aber was sagt denn die herrschende Meinung, die jetzt eh schon von der Rechtsprechung überholt ist?

Gefühlt wenige Tage später saß ich 500 km entfernt in einer BGB AT Vorlesung und gönnte mir die Auslegungsmethoden. Wortlaut, Sinn und Zweck, Historie. Hm, eigentlich wie Germanistik. Vielleicht kann ich das. 

Fünf Jahre Ambivalenz. Und das alles wegen dieser Jungs. Vielen Dank für nichts…aber vor allem: Vielen Dank für alles.


Die Autorin berichtet auf ihrem Instagram-Account @herlawness über weitere Annekdoten aus ihrem Schreibkurs in der JVA und ihrem Jurastudium/Referendariat.

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