Landessozialgericht Celle: Auch Blinde dürfen Elektrorollstuhl fahren!

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Die Krankenkasse muss einem – auf Grund seiner Multiple Sklerose blinden – Mann einen Elektrorollstuhl gewähren. Das hat das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen entschieden.

Sehbeeinträchtigungen kein genereller Grund, eine Verkehrstauglichkeit bei Elektrorollstühlen abzulehnen.

Der Fall ist genauso traurig wie juristisch relevant. Der Betroffene, um den es geht, leidet an Multipler Sklerose und wurde deswegen bereits 2018 in den Pflegegrad III eingestuft. Auf Grund seiner Erkrankung ist die Gehfähigkeit des Mannes stark eingeschränkt. Außerdem ist er blind. Der Hausarzt des Mannes verordnete ihm deswegen einen Elektrorollstuhl für rund 4.000 Euro. Die Krankenkasse des Mannes lehnte eine Übernahme dieser Kosten ab. Die Kosten für ein Elektrokrankenfahrzeug könnten nicht befürwortet werden, da aufgrund der vollständigen Erblindung Zweifel an der Fahreignung bestünden, so die Begründung.

Langstocktraining für Elektrorollstuhl

Der MS-Kranke erhob Widerspruch und wies darauf hin, dass er zwischenzeitlich ein Langstocktraining für den Elektrorollstuhl absolviert habe. Eine Unterweisung und Erprobung durch die Lieferfirma sei durchgeführt worden. Mit einem Elektrorollstuhl sei er auch nicht schneller unterwegs als Fußgänger:innen. Für Fahrten zu Ärzt:innen und für tägliche Besorgungen, die er nur mit dem Rollstuhl erledigen könne, sei er unabdingbar auf einen Elektrorollstuhl angewiesen. Doch auch von dieser Begründung lies sich die Krankenkasse nicht erweichen. So zog der Mann schließlich vor das Sozialgericht Lüneburg und bekam Recht:

Die Richter:innen urteilten, der Mann sei behinderungsbedingt rollstuhlpflichtig und sei bereits mit einem Aktivrollstuhl, einem Langstock und einem entsprechenden Training ausgestattet. Nunmehr bestehe ein Anspruch auf eine Versorgung mit einem Elektrorollstuhl, da der Kläger aufgrund der MS-Erkrankung in seiner Beweglichkeit deutlich eingeschränkt sei und nur noch wenige Schritte ohne Hilfe gehen könne. Den Aktivrollstuhl könne er aufgrund der eingeschränkten Armbeweglichkeit nur noch mit den Füßen bewegen. Daher sei eine Versorgungsnotwendigkeit zu bejahen. Hieran ändere auch die Blindheit des Klägers nichts. Diesbezüglich stützte sich das Sozialgericht auf die Ausführungen eines Sachverständigen, der bestätigt hatte, dass der Erkrankte mit einem Elektrorollstuhl sicher umgehen könne.

Gefährdung allgemeines Lebensrisiko

Auf die Berufung der Krankenkasse hin bestätigte jetzt auch das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen mit Sitz in Celle diese Entscheidung. Nach § 27 I 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst nach § 33 I 1 SGB V auch die Versorgung mit Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen. Zum Behinderungsausgleich des Klägers ist die Versorgung mit einem Elektrorollstuhl geeignet, erforderlich und angemessen, so die Richter:innen.

Dazu: “Nachvollziehbar hat der Sachverständige ausgeführt, dass der Aktivrollstuhl auch außerhalb des Hauses für den Kläger gefährlicher ist als die Nutzung eines Elektrorollstuhls, da er sich nur mit kleinen Trippelschritten vorwärtsbewegen und auch kleinere Hindernisse nicht bewältigen kann. Demgegenüber ist dies mit einem Elektrorollstuhl ohne Weiteres möglich.” Und weiter: “Die fehlende Sehfähigkeit des Klägers wird dabei durch das Langstocktraining ausgeglichen. Etwaige Restgefährdungen sind dabei dem Bereich der Eigenverantwortung zuzuordnen und in Kauf zu nehmen. Denn anderenfalls hätte der Kläger keinerlei Möglichkeit mehr, unbegleitet das Haus zu verlassen, da bei jedweder Art der Fortbewegung eine Eigen- und Fremdgefährdung entsteht, die jedoch dem allgemeinen Lebensrisiko zuzurechnen ist.”


Entscheidung: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 04.10.2021, Az. L 16 KR 423/20

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