Kuriose juristische Doktorarbeiten abseits des Mainstreams: Recht und Literatur (Teil 1)

Viele Jurastudierende und Referendar:innen streben gegen Ende ihrer juristischen Ausbildung eine Promotion an. Doch die Möglichkeit, eine juristische Doktorarbeit zu verfassen, bietet sich nur einem kleinen Prozentsatz. Denn üblicherweise ist Voraussetzung, dass das Erste Staatsexamen mit einem Vollbefriedigend, also mit mindestens 9 Punkten bestanden wurde. Diese Hürde schaffen durchschnittlich nur etwa 15 Prozent der Jurastudierenden. Und von diesen entscheiden sich dann doch viele dazu, keine weiteren 3-4 Jahre an der Universität zu verbringen, sondern lieber direkt ins Berufsleben zu starten. Denn den Luxus, mit Ende 20 noch weitere Jahre in der Forschung zu verbringen, können sich auch nicht alle leisten. Das Verfassen einer juristischen Doktorarbeit ist also mit großen Hürden verbunden. Doch das soll nicht Thema dieses Textes sein. Wir möchten Euch in dieser Artikelserie vielmehr ganz besondere Dissertationen abseits des juristischen Mainstreams vorstellen und damit zeigen, dass wissenschaftliches Arbeiten auch großen Spaß machen kann.

In diesem ersten Teil unsere Serie geht es um den ungewöhnlichen Forschungsbereich „Recht und Literatur“. Diesem Thema haben wir hier auf JURios bereits mehrere (nichtwissenschaftliche) Beiträge gewidmet. Beispielsweise in Bezug auf „Herr der Ringe“ und „Harry Potter“. Seit 1960 ist die „Law & Literature“ Bewegung in den USA aktiv. Inzwischen erreichte die interdisziplinäre Forschungsdisziplin aber auch die deutschen Universitäten.

Liebe Daria, du bist Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Prof. Dr. Jochen Bung, M.A. am Lehrstuhl für Rechtsphilosophie und Strafrecht in Hamburg und studierst nebenbei Philosophie im Master. Möchtest du dich unseren Leser:innen kurz vorstellen?

“Sehr gerne. Ich bin übrigens seit Mai 2021 auch im Ref in Berlin, kann also wunderbar den Vergleich zwischen Theorie und Praxis anstellen. Ich habe von 2011-2016 an der Bucerius Law School in Hamburg studiert und während meines Studiums Theater unter der Regie von Liz Rech und Annika Scharm an der dortigen Theatergruppe gespielt. Hieraus ist auch mein Theaterkollektiv kiF hervorgegangen, das ich 2017 mit Leokadia Melchior gegründet habe. Ich arbeite an der Grenze von Kunst und Wissenschaft und versuche, Rechtsphilosophie zugänglich zu machen. Ich glaube, dass die Fragen, die dort diskutiert werden, nicht nur für einen kleinen Kreis von Eingeweihten relevant sind, sondern für jede und jeden.”

Darias Dissertation wurde dieses Jahr in Buchform bei Duncker & Humblot veröffentlicht. Sie trägt den spannenden Titel „Tragödie des Rechts“.

Wie bist du gerade auf das Thema „Recht und Literatur“ gestoßen? Was hat dich dazu motiviert, in diesem Bereich zu forschen?

“Im Rahmen meines Studiums habe ich 2013 ein Auslandssemester an der NYU School of Law gemacht. Dort hatte ich ein Seminar zu „Law & Literature“, das die School of Law gemeinsam mit der Graduate School of Arts veranstaltet hat. Ich habe dieses Seminar geliebt. Wir haben jede Woche einen Roman gelesen, in dem das Recht künstlerisch verarbeitet worden ist, und dazu Essays geschrieben. Meine Tage in New York bestanden daraus, im Washington Square Parc auf der Bank zu liegen, und Kafka, Trollope oder Coetzee zu lesen. Da wusste ich: das ist das, was ich später mal machen möchte. Es gibt ein Bild von mir aus dieser Zeit. Dazu muss man sagen, dass ich – wie ich glaube viele junge Menschen, die beginnen, Jura zu studieren – in der Schule selbst viel literarisch geschrieben habe, auch Kurzgeschichten und Gedichte, und immer davon ausgegangen bin, das ich auch im Jurastudium die Möglichkeit finden werde, kreativ zu schreiben.”

Daria in New York

Hattest du Probleme, einen Professor für dein exotisches Thema zu begeistern?

“Nein, aber ich sollte vielleicht die Geschichte erzählen, wie ich an den Lehrstuhl gekommen bin. Direkt nach meinen schriftlichen Klausuren habe ich mich für Philosophie an der Universität Hamburg eingeschrieben, weil ich im juristischem Studium – jenseits meines Scherpunktstudiums „Grundlagen des Rechts“ – eine grundlegende Betrachtung der zentralen Fragen des Rechts, vorallem: was ist Recht eigentlich? Was macht es mit uns? Gibt es Alternativen? – sehr vermisst habe. Dies könnte auch daran liegen, dass ich etwas naiv war, was das juristische Studium angeht. Ich  war auf dem Französischen Gymnasium in Berlin und dort hat man, dem französischen Konzept folgend, in der 12. Klasse keinen Französischunterricht mehr, sondern stattdessen vier Stunden Philosophie die Woche. Philosophie wurde schnell zu meinem Lieblingsfach und wir haben dort auch Texte von Max Weber und Hannah Arendt als Einführung in die politische Philosophie gelesen. Ich habe nach dem Bac zwischen Jura und Philosophie geschwankt und mich schließlich für das Jurastudium an der Bucerius entschieden, weil ich dachte, dort ließe sich beides verbinden. Die Gründungsidee der Bucerius war es ja auch, eine Alternative zum Staatsexamen anzubieten und Jurist:innen auszubilden, die nicht nur Jura machen, sondern über den Tellerrand schauen und gesellschaftliche Verantwortung übernehmen, Jura plus eben. Ich kannte niemanden, der an der Bucerius studiert hatte. Als ich dann da war, wurde mir klar, dass ich das Studium dort sehr romantisiert hatte, denn schnell wurde klar, dass auch an der Bucerius das Staatsexamen an erster Stelle steht.

Ich habe trotzdem meine Interessen weiterverfolgt, eben Theater gespielt und möglichst viel Philosophie gemacht und gelesen, aber in der Examenszeit ist der Druck – auch durch die hohe Motivation meines Umfelds dort – sehr gewachsen. Das Jahr vor dem Examen habe ich als sehr zehrend und kalt empfunden, reduziert nur auf juristische Subsumtionen und 5-Stunden-Klausuren. Nach meiner mündlichen Prüfung im November 2016 war ich dann auf einer Party einer Freundin, die am selben Tag wie ich ihre mündliche Prüfung hatte. Auf der Party war auch mein jetziger Kollege am Lehrstuhl, Yann Romund. Wir kamen ins Gespräch und als ich im erzählte, dass ich Philosophie studierte und immer schon an Rechtsphilosophie interessiert war, schlug er mir vor, mich doch mal bei seinem Chef zu melden, der ja schließlich Rechtsphilosoph sei. Erst da kam mir die Idee, zu promovieren. Ich wusste immer schon, dass ich Philosophie und Theater machen wollte und auch ein starkes wissenschaftliches Interesse habe,  aber über die konkrete Form, in der ich  diese Interessen ausleben kann, hatte ich bis dahin einfach nicht nachgedacht. Ich schrieb also Jochen Bung, dass ich großes Interesse an Law & Literature hätte und mir vorstellen könnte, über Goethes Faust zu promovieren.

Wir trafen uns zu einem ersten Gespräch. Er war der Idee gegenüber nicht abgeneigt, gab mir aber noch ein Buch zur materialistischen Rechtstheorie und den Gedanken mit, dass dieses Themengebiet dringend mal aufgearbeitet werden müsste. Nach dem ich einige Texte von Marx und Engels gelesen hatte, wurde mir klar, dass dies viel mehr die Form von Recht & Literatur ist, die ich machen möchte: nicht nur berühmte Romane zum Recht analysieren, sondern die Mittel der künstlerischen Sprache benutzen, um an konkreten gesellschaftlichen Fragen zu arbeiten. Wirklich, gerade die frühen Texte von Marx zum Recht sind große Kunst, gespickt von Metaphern und treffenden Zynismen, und allein schon von einem literarischen Standpunkt aus sehr lesenswert! Jedenfalls trafen Jochen Bung und ich uns dann erneut und stellten fest, wie eng materialistische Rechtstheorie und Law & Literature zusammenhängen.

Dies insbesondere deshalb, weil das Leben des bekanntesten materialistischen Rechtstheoretikers – Jewgeni B. Paschukanis – selbst eine Tragödie ist: Paschukanis, der in seinem 1924 erschienen Buch „Allgemeine Rechtslehre und Marxismus“, die These aufstellte, dass das Recht in einer kommunistischen Gesellschaft absterben muss, wurde zunächst zum Widerruf aller seiner Thesen gezwungen und 1937 prozesslos unter Stalin liquidiert. Er erfuhr am eigenen Leib, in tragischer Ironie des Schicksals, was eine Gesellschaft ohne Recht bedeuten kann. Scherzhaft meinte Jochen Bung, da ich ja selbst Theater mache, könne ich auch ein Stück über Paschukanis schreiben. Ich glaube, er hatte sich das ursprünglich eher als eine Art Annex zu einer Dissertation über das Werk von Paschukanis vorgestellt. Ich habe ihn beim Wort genommen und kurzerhand beschlossen, das Theaterstück selbst ins Zentrum der Dissertation zu stellen – eben mit dem Anspruch, dass rechtsphilosophische Texte nicht nur für andere Rechtsphilosoph:innen zugänglich sein, sondern in der Tendenz jede und jeden erreichen können sollen. Man könnte auch sagen, ich habe probiert, ganz im Sinne von Marx die Rechtsphilosophie mal wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen, auch wenn mir klar ist, dass mein Stück aufgrund des Themas sehr verkopft bleibt. Jochen Bung hat mich während der ganzen Zeit unterstützt und mir viel Freiheit gelassen. Er hätte mich sicher auch das ursprüngliche Faust-Thema machen lassen.  Insofern war das exotische Thema ein ganz harmonischer Prozess und ich würde sagen, wir haben uns dafür gegenseitig in gleichem Maße begeistert.”

Wie erging es dir während des Schreibprozesses? Welche Hürden musstest du meistern, welche Schwierigkeiten gab es?

“Das Schreiben an sich viel mir leicht. Der Vorteil davon, dass ich einen Teil der Dissertation als Theaterstück verfasst und auch inszeniert habe, war, dass ich ständig mit vielen Menschen im Austausch über meine Dissertation war. Das hat mir sehr geholfen, mich zum Schreiben zu motivieren. Auch bekommt ein Text meiner Meinung nach eine andere Energie, wenn er von Menschen gesprochen wird. Insofern waren die Proben für mich sehr wichtig, in denen ich Textfragmente ausprobieren konnte. Die schwierigste Phase war für mich das letzte Drittel, von Herbst 2019 – Herbst 2020, wenn es darum ging, die Dissertation fertigzustellen und vorallem die Fußnoten im wissenschaftlichen teil zu setzen. Dies war dann eine sehr einsame und auch mühsame Arbeit, dazu kam Corona. Die Uraufführung des Stücks fand im Mai 2019 im Hamburger Sprechwerk, darauf hatte ich ein Jahr mit voller Energie hingearbeitet, in den Wochen vor der Premiere nur 2-3 Stunden die Nacht geschlafen. Danach bin ich natürlich erstmal in ein Loch gefallen.  Das einzige, was mich dort herausgeholt hat, war der Gedanke, dass dieses Buch jetzt endlich fertig werden muss, dass es an der Zeit ist, das Kapitel abzuschließen.”

Der Klappentext des Buches lautet: „Ziel des Buches ist es, die Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft zu durchbrechen, indem das Kernstück der rechtsphilosophischen Abhandlung über die Aktualität der Marxschen Rechtskritik in der Form einer modernen Tragödie dargestellt wird. Der dramatische Text, der den tragischen Fall des sowjetischen Rechtstheoretikers Jewgenij B. Paschukanis verhandelt, wird durch Vorbemerkungen und weiterführende Reflexionen in Anlehnung an das dialektische Theaterverständnis von Bertolt Brecht komplementiert. Gemeinsam bilden Stück und Reflexionen eine neuartige Form der wissenschaftlich-künstlerischen Darstellung, die einen Beitrag zur Demokratisierung von (Rechts-)Kritik leisten soll und sich gleichzeitig als eine Aktualisierung des epischen Theaters im 21. Jahrhundert versteht. Das Buch ist damit eine radikale Umsetzung der Ideen der ›Recht und Literatur‹-Bewegung, indem es die Verbindung von Kunst und Wissenschaft innerhalb desselben Textes praktisch herstellt.“

Wow, das hört sich ganz schön kompliziert an. Stellst du unseren Leser:innen kurz und verständlich die Kernthese deiner Arbeit vor?

“Gerne. Wie vielleicht schon deutlich geworden ist, ist Rechtsphilosophie für mich nichts, das nur in akademischen Kreisen existieren sollte. Vielmehr möchte ich die gesellschaftliche Rolle der Rechtsphilosophie, gerade auch der materialistischen Kritik des Rechts, hervorheben. Texte, die zwar eine Revolution oder Demokratisierung des Rechts fordern, dies aber in einer Sprache tun, das niemand sie versteht, verstricken sich meiner Meinung nach in einen Widerspruch. Denn wie soll denn eine gewaltfreie, basisdemokratische Veränderung der bestehenden Zustände angestoßen werden, wenn den einzelnen Subjekten nicht zunächst die Möglichkeit gegeben wird, über die gegenwärtigen Verhältnisse nachzudenken und für sich zu entscheiden, wie sie dazu stehen? Brecht hat meines Erachtens nach genau das meisterhaft geschafft: Seine Zuschauenden dazu anzuregen, selbst über die Welt, in der sie leben, und die er ihnen in seinen Stücken „zu Füßen“ legte, nachzudenken. Brecht hat das deshalb geschafft, weil seine Stücke nicht nur hochtrabende theoretische Abhandlungen waren, sondern auch einfach Spaß gemacht haben. Natürlich ist Brecht einzigartig und ich kann mir nicht mal anmaßen, zu denken, dass ich an ihn in irgendeiner Form herankomme, aber ich versuche zumindest, durch Einsatz der verfremdenden Mittel des Theaters, mich auf seinen Spuren zu bewegen: Rechtsphilosophie zu betreiben, die nicht nur zum Nachdenken anregt, sondern auch Spaß macht.”

Welche Ratschläge kannst du jungen Jurist:innen mit auf den Weg geben, die ebenfalls im Bereich „Recht und Literatur“ promovieren möchten?

“Einfach machen. Mein Eindruck ist, dass „Recht und Literatur“ auch schon lange kein Randgebiet mehr ist. Allein dieses Jahr veranstaltet beispielsweise der SFB „Recht und Literatur“ an der Uni Münster mehrere Tagungen zum Thema Recht und Literatur. An der Uni Göttingen gibt es einen Arbeitskreis zu Recht und Literatur. Nächstes Jahr bin ich auf einer Tagung zu Strafrecht und Literatur an der Viadrina Uni in Frankfurt Oder. Auch kommen immer mehr Jurist:innen und Wissenschaftler:innen auf mich zu, die sich für das Thema interessieren oder mir verraten, dass sie selbst hobbymäßig schreiben. Daher: einfach machen! Das Thema ist im Kommen.

Ach ja, und bei Fragen natürlich jederzeit gerne mir schreiben. Ich bin gerade dabei, mit einem Freund und Kollegen, Jan-Robert Schmidt, einen Promotionsratgeber zu verfassen, der nicht nur auf Fakten, sondern auch auf persönlichen Erfahrungen und Geschichten basiert. Wir wollen dort dazu animieren, die Promotionsphase als Zeit der Entwicklung zu begreifen und dazu ermutigen, sein eigenes Ding zu machen! Insofern freuen wir uns immer über Anregungen, gerade auch von jungen Jurist:innen, die mit dem Gedanken einer Promotion spielen, denn wir wollen den Ratgeber möglichst nah an den Bedürfnissen derjenigen ausrichten, die den Ratgeber dann vielleicht auch lesen.”


Ihr dürft Daria gerne eine Mail schreiben an: juristischedissertation@gmail.com.

Daria war außerdem in zwei Podcastfolgen zu Gast. 2020 im Podcast »zurechtgerückt« der Universität Hamburg und 2021 im Podcast »Brezeln & Wein« des Bucerius Alumni e.V. In beiden Folgen spricht Daria über ihre Arbeit „Tragödie des Rechts“. Schaut doch mal rein!

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Redaktion
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JURios. Kuriose Rechtsnachrichten. Kontakt: redaktion@jurios.de

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