Alle angehenden Jurist:innen lernen, was der 23. Mai 1949 für ein wichtiges Datum ist. Denn an diesem Tag wurde unsere deutsche Verfassung – das Grundgesetz – erlassen. Was man im Studium nicht lernt: An dieser Abstimmung waren neben 61 Männern des Parlamentarischen Rates gerade einmal 4 (vier!) Frauen beteiligt. Diesen starken Frauen möchten wir hier eine Bühne geben.
Doch wie entstand unser Grundgesetz überhaupt? Unsere deutsche Verfassung wurde nach dem Zweiten Weltkrieg und der daran anschließenden Besetzung durch die Alliierten von einem sog. “Parlamentarischen Rat” ausgearbeitet und genehmigt. In Auftrag gegeben hatten das die drei westlichen Besatzungsmächte: Die USA, Großbritannien und Frankreich. Damit sollte ein, auf demokratischen Prinzipien beruhender, politischer Neuanfang für Deutschland eingeleitet werden.
Am 13. August 1948 beschlossen die elf westdeutschen Ministerpräsidenten bzw. Bürgermeister (Hamburg, Bremen), dass ein Parlamentarischer Rat eine Verfassung ausarbeiten sollte. Die Stadt Bonn wurde als vorläufiger Sitz der Bundesorgane auserkoren. Dort sollte sich dann auch der Parlamentarische Rat treffen. Die 65 stimmberechtigten Mitglieder wurden nicht in allgemeiner direkter Wahl, sondern von den einzelnen Landesparlamenten gewählt. Unter ihnen befanden sich gerade einmal vier Frauen. Nämlich Friederike Nadig (SPD), Elisabeth Selbert (SPD), Helene Weber (CDU) und Helene Wessel (Zentrum). Die Eröffnungsfeier des Parlamentarischen Rates fand im Rahmen eines Festaktes am 1. September 1948 statt. Nach 36-maligen Nachbesserungen wurde das Grundgesetz schließlich mit 53 zu 12 Stimmen am 23. Mai 1949 um 23.55 Uhr verabschiedet. Es trat in Westdeutschland am Folgetat in Kraft.
Eine Verfassung für Westdeutschland
Der Verzicht auf die Bezeichnung als „Verfassung“ sollte den provisorischen Charakter des Grundgesetzes betonen. Denn die Deutschen in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und im Saarland wirkten nicht daran mit. Das Grundgesetz sollte damit eigentlich eine „vorläufige Teilverfassung Westdeutschlands“ sein. Das Saarland wurde am 1. Januar 1957 Bestandteil der BRD. Mit der Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 wurde das Grundgesetz die Verfassung des gesamten Deutschen Volkes. In der Präambel heißt es seitdem:
“Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen,
von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.
Die Deutschen in den Ländern Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen haben in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet. Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk.”
Auch interessant: Der Parlamentarische Rat wurde von Juristen (unter ihnen fünf Landesjustizminister) sowie (insgesamt 47) Beamten dominiert. Einen akademischen Abschluss hatten 51 Abgeordnete, darunter 32 ein juristisches Examen. Aber auch über die Mütter des Grundgesetzes gibt es viel zu erzählen:
Friederike Nadig – Die Umsetzerin
Friederike Nadig wurde am 11. Dezember 1897 in Herford (NRW) geboren. Sie erlernte zunächst den Beruf der Verkäuferin, besuchte aber nach dem Ersten Weltkrieg ab 1908 die Soziale Frauenschule in Berlin. Bereits 1919 trat sie der SPD bei. 1922 legte sie ihr Examen als Wohlfahrtspflegerin ab und arbeitete auch einige Jahre in diesem Beruf. Ehrenamtlich engagierte sich die gläubige Protestantin in der Arbeiterwohlfahrt. Von 1930 bis 1933 war Friederike Nadig Abgeordnete im Westfälischen Provinziallandtag.
Unter den Nationalsozialisten wurde sie als “bekennende Sozialistin” schon 1933 mit einem Berufsverbot belegt. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg konnte Friederike Nadig wieder als Gesundheitspflegerin arbeiten. Über 20 Jahre lang war die engagierte Frau hauptamtliche Geschäftsführerin der wiedergegründeten Arbeiterwohlfahrt im Bezirk Ostwestfalen-Lippe. Gleichzeitig beteiligte sie sich am Wiederaufbau der SPD. Von 1947 bis 1950 war Friederike Nadig Mitglied des Nordrhein-Westfälischen Landtages.
In dieser Zeit wurde sie auch in den Parlamentarischen Rat zur Erarbeitung des Grundgesetzes gewählt. Dort setzte sie sich für eine umfassende Gleichberechtigung von Frauen und Männern ein. Sie war der Überzeugung, dass Frauen über die staatsbürgerliche Gleichstellung hinaus auch im Familien- und Eherecht gleichgestellt werden müssten. Während Art. 3 GG Einzug ins Grundgesetz fand, scheiterte Friederike Nadig mit ihrer Forderung nach „gleichem Lohn für gleiche Arbeit“. Immerhin konnte sie zusammen mit Helene Weber durchsetzen, dass es in Art. 6 V GG heißt: „Den unehelichen Kindern sind durch die Gesetzgebung die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.“
Über die Zusammensetzung des Parlamentarischen Rates sagt sie: “Im Parlamentarischen Rat ist die deutsche Frau zahlenmäßig viel zu gering vertreten. Das Grundgesetz muss aber den Willen der Staatsbürger, die überwiegend Frauen sind, widerspiegeln.” Bei der ersten Bundestagswahl zog Friederike Nadig 1949 in den Bundestag ein, dem sie bis 1961 angehörte.
Elisabeth Selbert – Die Texterin
Über Elisabeth Selbert hatten wir bereits in unserem Artikel “Drei historische Juristinnen, die in Deutschland Rechtsgeschichte schrieben (Teil 1)” ein paar Worte verloren.
Am 22. September 1896 wurde Elisabeth Selbert unter dem Namen Martha Elisabeth Rohde in Kassel geboren. Wie alle Mädchen musste Selbert die Realschule 1913 ohne Zeugnis und Mittlere Reife verlassen. In den kommenden Jahren arbeitete Elisabeth Rohde unter anderem in einer Import- und Exportfirma. Während der Novemberrevolution lernte sie den sozialdemokratischen Kommunalpolitiker Adam Selbert kennen, den sie 1920 heiratet. Bereits 1918 war sie selbst der SPD beigetreten. In den kommenden Jahren hatte Elisabeth Selbert verschiedene politische Positionen inne – unter anderem war sie Mitglied im Gemeindeparlament Niederzwehren und Delegierte der SPD-Frauenkonferenz.
1925/1926 holte Elisabeth Selbert ihr Abitur nach und begann ihr Studium der Rechts- und Staatswissenschaften an den Universitäten Marburg und Göttingen. 1934 schloss sie ihr zweites Staatsexamen ab und arbeitete als Rechtsanwältin. Nach dem zweiten Weltkrieg nahm Elisabeth Selbert ihr politisches Engagement für die SPD wieder auf. Von 1946-1968 war sie Mitglied im Hessischen Landtag. Von 1948-1949 war sie Vertreterin Niedersachsens im Parlamentarischen Rat. Gemeinsam mit Friederike Nadig schaffte sie es, den umstrittenen Satz “Frauen und Männer sind gleichberechtigt” ins Grundgesetz aufzunehmen. Zu den Gegnern der Formulierung soll sie gesagt haben: “Der klare Satz: ‘Männer und Frauen sind gleichberechtigt’ ist so eindeutig, dass wir ihn nicht negativ zu umschreiben brauchen.”
Zu den Hauptanliegen der Juristin gehörte außerdem die Schaffung eines unabhängigen Rechtswesens. Sie forderte unter anderem – erfolgreich – ein oberstes Gericht zur Normenkontrolle aller politischen Gremien. Das heutige Bundesverfassungsgericht.
Helene Weber – Die Netzwerkerin
Helene Weber wurde am 17. März 1881 in Elberfeld (NRW) geboren. Von 1897 bis 1900 besuchte sie das Lehrerinnenseminar in Aachen. Bis 1909 studierte sie Geschichte, Philosophie und Romanistik in Bonn und Grenoble. Danach arbeitete sie als Lehrerin, ab 1918 als Leiterin der Sozialen Frauenschule Aachen. 1920 wurde Helene Weber die erste weibliche Ministerialrätin im Preußischen Ministerium für Volkswohlfahrt. Politisch gehörte sie dem Zentrum an. Als Mitglied der Weimarer Nationalversammlung war sie 1919/20 an der Entwicklung der Weimarer Verfassung beteiligt. Von 1921 bis 1924 war sie Landtagsabgeordnete in Preußen und gehörte bis 1933 dem Reichstag an.
Im Dritten Reich wurde sie 1933 aus politischen Gründen in den Ruhestand versetzt und arbeitete danach in der freien Wohlfahrtspflege. Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahm sie den Vorsitz des Bundesverbandes katholischer Fürsorgerinnen Deutschlands und wurde erneut stellvertretende Vorsitzende des Katholischen Frauenbundes.
Ab 1945 beteiligte sich Helene Weber am Aufbau der CDU. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie in den Landtag von Nordrhein-Westfalen berufen. 1948 wurde sie – gegen die Proteste ihrer eigenen Partei – als CDU-Vertreterin in den Parlamentarischen Rat gewählt. Denn die Frauenarbeitsgemeinschaft der CDU hatte gefordert, dass „mindestens eine Frau“ in den Beratungen vertreten sein müsse. Im Ausschuss für Grundsatzfragen kämpfte sie vor allem für den Schutz von Ehe und Familie und für das Elternrecht (Art. 6 und Art. 7 GG). Dabei trat sie als engagierte Katholikin auf. Zusammen mit Helene Wessel kämpfte sie für Art. 6 IV GG: „Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.“ Auch sie war wie ihre Kolleginnen der Meinung: “Die Frau muss in der Politik stehen und muss eine politische Verantwortung haben.”
Helene Wessel – Die Unbequeme
Helene Wessel wurde am 6. Juli 1898 in Hörde (NRW) geboren. Sie absolvierte nach der Schule eine kaufmännische Lehre und nahm im November 1915 eine Stelle als Sekretärin an. Später bildete sich Helene Wessel zur Jugend- und Sozialfürsorgerin und danach zur Diplom-Wohlfahrtspflegerin fort. Ab 1919 engagierte sie sich im Zentrum und wurde im Mai 1928 in den Preußischen Landtag gewählt. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 wurde sie als „politisch unzuverlässig“ eingestuft. Nach dem Zweiten Weltkrieg betätigte sie sich wieder politisch, zunächst erneut im Zentrum, wo sie 1946 stellvertretende Vorsitzende wurde, dann in der Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP) und später in der SPD. Denn sie war der Meinung: “Frauen müssen sich in die staatsbürgerlichen Aufgaben bewusst und freudig einmischen.”
Helene Wessel vertrat zusammen mit Johannes Brockmann im Parlamentarischen Rat die Deutsche Zentrumspartei. Zentrales Anliegen war ihr die Festschreibung des Schutzes für Ehe und Familie im Grundgesetz. Zusammen mit Helene Weber setzte sie sich deswegen für Art. 6 IV GG ein. In der Schlussabstimmung stimmte Helene Weber am 8. Mai 1949 gegen das Grundgesetz, unterzeichnete es dann aber doch.
Helene Weber wollte mehr Volksabstimmungen als es im Grundgesetz vorgesehen war. Sie vertrat die Ansicht, dass dies wichtig für eine “echte Demokratie” sei. Darüber hinaus forderte sie die Formulierung des Elternrechts als Naturrecht. 1949 war Helene Wessel eine der zehn gewählten Abgeordneten der Deutschen Zentrumspartei im ersten Deutschen Bundestag. Als einzige Frau übernahm sie den Vorsitz einer Bundestagsfraktion.
Fundstelle: https://www.bmfsfj.de/