Schon wenige Wochen nach dem Beginn des Jurastudiums wird klar: Definitionen sind wichtig. Sehr wichtig. Wie ein Begriff „richtig“ zu definieren ist, entscheidet nicht selten über Anspruch oder kein Anspruch, Strafbarkeit oder keine. Und wenn schon nicht über die Strafbarkeit, dann doch gern einmal über das Strafmaß. Man sehe sich nur die Körperverletzung mit ihren Qualifikationen, Regelbeispielen und besonders schweren Fällen an. Für jede einzelne Normvoraussetzung will eine Definition auswendiggelernt werden. So können Studenten des zweiten Semesters im Schlaf reproduzieren, was ein Wald ist und was eine Waffe, wie groß eine Menschenmenge, eine Bande, ein Verein oder eine Versammlung sein müssen und wie man Organisierte Kriminalität von Regierungshandeln abgrenzt.
Unsere Autorin Jana vertritt in ihrem Artikel trotzdem mit guten Gründen: “Hier muss man keine Gesetze auswendig lernen”
Pfiffige Kandidaten beginnen schon früh, das Definieren zu üben, um nicht in Prüfungen ausschließlich auf auswendiggelerntes Wissen zurückgreifen zu müssen. Gut zum Üben eignen sich – außer den termini technici des Gestezes – Begriffe, die man auf den ersten Blick gar nicht als juristische wahrnimmt.
Geschwindigkeit ist Strecke pro Zeit
Wer etwas über die Bewegung eines Bugatti auf einer Autobahn mitteilen will, muss für eine Aussage über die Geschwindigkeit Strecke zu Zeit in Beziehung setzen. Für beides braucht es ein Maß. Kilometer und Stunde etwa, oder Meter und Sekunde. Wie definiert man nun einen Meter? Die Wikipedia sagt: „die Länge der Strecke, die das Licht im Vakuum während der Dauer von 1/299 792 458 Sekunde zurücklegt“. Juristen jubeln: superpräzise, aber praktisch nicht nutzbar. Praktisch hat man sich lange Zeit mit einem „Urmeter“ als Maßstab und Kopien davon beholfen, die jedes Land erhalten hat, das mit dem metrischen System arbeiten wollte. (Auf der Suche nach dem Urmeter muss man übrigens gar nicht bis nach Sevres bei Paris reisen. Wer mit einer amtlichen Kopie zufrieden ist, findet in Deutschland welche in Braunschweig und München.)
Bei der Sekunde wird die Suche schon weitaus schwieriger – wir dürfen annehmen, dass die Ursekunde rettungslos verstrichen ist. Immerhin gibt es aber auch dafür eine ziemlich präzise Definition: „das 9.192.631.770-fache der Periodendauer der Strahlung, die dem Übergang zwischen den beiden Hyperfeinstrukturniveaus des Grundzustandes von Atomen des Nuklids Cs entspricht“. Nun ja, wenn die Naturwissenschaftler uns auf diese Weise überfordern, erfinden wir einfach unsere eigene Definition. Das beansprucht die Rechtswissenschaft sowieso regelmäßig für sich.
Die juristische Sekunde
Unsere eigene Sekunde nennen wir die juristische Sekunde. Und nutzen sie, wofür immer wir sie brauchen. Bekannt ist sie auch unter ihrem zweiten Namen logische Sekunde. Der zeigt schon etwas deutlicher, dass sie gar keine Zeitspanne beschreibt, sondern recht eigentlich eine Hilfskonstruktion im Denkmodell der juristischen Logik ist. Man braucht sie hauptsächlich im Sachenrecht; dort klärt man – wichtig wegen des Prioritätsprinzips –, wer Eigentümer einer Sache geworden ist oder ein Pfandrecht daran erworben hat. Die juristische Sekunde beschreibt als Metapher eine beliebig kurze real nicht messbare Zeitspanne, die gerade ausreicht, um eine Rechtswirkung eintreten zu lassen. So wird etwa beim Durchgangserwerb auch derjenige für eine juristische Sekunde Eigentümer einer Sache, der keinen unmittelbaren Besitz erlangt, wenn auf sein Geheiß die Sache physisch direkt an den Enderwerber übergeben wird.
Weil es eine Metapher ist, fassen die Gerichte sie mit spitzen Fingern und setzen sie regelmäßig Anführungszeichen [z.B. BGH, Beschl. v. 3. 2. 2005, Az. V ZB 44/04 = NJW 2005, 1430; eine Ausnahme bildet etwa BAG, Urt. v. 24.9.2015, AZ. 2 AZR 562/14, Rn. 14.
Und im Alltag der meisten Kollegen spielt sie doch vermutlich eine ziemlich untergeordnete Rolle, vielleicht sogar keine. Man lächelt über das sprachliche Bild – und dann legt man die juristische Sekunde beiseite, solange man nicht gerade mit streitigen Problemen des Pfandrechts beim Durchgangserwerb befasst ist. Das kann sich aber schnell ändern, wenn in einer argumentativ schwierigen Situation plötzlich ein bisschen Kreativität gefragt ist.
Nötigenfalls transportiert man dann das sachenrechtliche Konstrukt in neue dogmatische Zusammenhänge, etwa bei der Fristberechnung. Wir zeigen zwei interessante Argumentationen mit juristischen Sekunden.
Ein Keil zwischen zwei Fristen?
In einem jüngeren Fall [OLG Nürnberg Urt. v. 30.03.2022, Az. 12 U 3303/19] wurde um restliche Dienstlohnzahlungsansprüche gestritten. Die würden umso höher ausfallen, je später die Kündigung gegenüber dem klagenden GmbH-Geschäftsführer wirksam geworden war. Die Kündigungserklärung war während eines befristeten Beschäftigungsverhältnisses zugegangen. Nach der Rechtsauffassung des Geschäftsführers sollte der Lauf der Kündigungsfrist aber erst mit dem Ablauf der Beschäftigung beginnen. Das ist möglich; aber die rechtsprechungsrechtlich festgelegten Voraussetzungen hierfür konnte der Kläger nicht zur Überzeugung des Gerichts vortragen. Zusätzlich hat der Kläger nun anscheinend argumentiert (der genaue Wortlaut ist aus dem Urteil nicht ersichtlich), die Kündigungsfrist könne überhaupt erst nach dem Ende der Befristung zu laufen beginnen, weil zwischen der einen und der anderen Zeitspanne eine juristische Sekunde liege, die verhindere, die Kündigungsfrist ganz oder teilweise in das befristete Dienstverhältnis hineinzuverlegen.
Es ist nicht überliefert, ob die Richter geschmunzelt haben, weil ihnen diese Nutzung des Konstrukts „juristische Sekunde“ kreativ, neu, unnötig oder dogmatisch falsch erschien. Sie haben sich pflichtschuldig im Urteil damit auseinandergesetzt, wenn auch erst ganz am Ende, unmittelbar vor der Kostenentscheidung, und zwar so:
“Soweit sich der Kläger […] auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse beruft, nach denen die exakte Bestimmung des Zahlenwertes einer Messgröße nicht möglich sei und dieser Wert lediglich näherungsweise ermittelt werden könne, folgt hieraus keine andere Beurteilung.
Bei der Jurisprudenz handelt es sich bereits nicht um eine Naturwissenschaft. Die juristische Beurteilung des Fristenlaufs und des Zeitpunkts des Wirksamwerdens einer Kündigung ist kein wissenschaftlich messbarer Umstand; diese Fragen sind vielmehr mittels juristischer Bewertung zu beantworten. In der oben […] angeführten Fallgestaltung mag zwischen Ablauf des Zeitraums, für den eine ordentliche Kündigung ausgeschlossen war (30.06.2018, 24:00 Uhr) und Beginn des Laufs der Kündigungsfrist (01.07.2018, 0:00 Uhr) zwar möglicherweise eine sog. “juristische Sekunde” liegen. Im naturwissenschaftlichen Sinn ist insoweit indes keine Zeit verstrichen – auch die […] “milliardstel Sekunden” nicht -; vielmehr beurteilt sich der Fristlauf nach den oben zitierten gesetzlichen Vorgaben, nach denen die Kündigungsfrist mit Beginn des 01.07.2018 zu laufen begonnen hat.“
Man meint zwischen den Zeilen ein ganz kleines Augenzwinkern hervorblitzen zu sehen. Aber ich kann mich täuschen. Zumindest dem Wortlaut nach steht da nichts von Netter Versuch!
Wie lange ist man 59? Nur für eine juristische Sekunde?
Ganz so außergewöhnlich scheint das Jonglieren mit der juristischen Sekunde dann doch wieder nicht zu sein. Man versuche einmal die Argumentation zu rekonstruieren, die das Bundesarbeitsgericht [BAG, Urt. v. 26. 5. 2009, Az. 1 AZR 198/08, hier Rn. 16 = NZA 2009, 849, 850 f.] bei der Auslegung der Abfindungsregeln in einem Sozialplan zu folgenden Überlegungen veranlasst haben könnte:
“Schon der sich aus dem Wortlaut der Regelung ergebende Wortsinn ist nahezu eindeutig. Diese soll anwendbar sein auf „bis zu 59-jährige Mitarbeiter”. Nach allgemeinem Sprachgebrauch ist ein Mensch ein Jahr lang „59-jährig”, nämlich von der Vollendung seines 59. bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres. Wäre eine Person sogleich nach der Vollendung des 59. Lebensjahres älter als 59 Jahre, so wäre sie zu keinem Zeitpunkt oder allenfalls für eine juristische Sekunde „59-jährig”: Bis zur Vollendung des 59. Lebensjahres wäre sie noch nicht 59-jährig, unmittelbar danach nicht mehr. 59jährige Mitarbeiter gäbe es demzufolge nach dem von den Parteien und den Vorinstanzen vertretenen Verständnis nicht. Anhaltspunkte für die Annahme, die Betriebsparteien hätten in derart ungewöhnlicher Weise vom allgemeinen Sprachgebrauch abweichen wollen, sind nicht erkennbar.“
Wer sich das durch den Kopf gehen lässt, lernt man beiläufig auch etwas über Auslegung: Absurde Ergebnisse sind zu vermeiden. Und wegen der juristischen Sekunde nehmen wir mit: Man braucht sie seltener als man denkt. Letztendlich wohl doch nur im Sachenrecht.