Die “gestörte Gesamtschuld” in a nutshell

Ein absoluter Klassiker in der juristischen Examensklausur sind Probleme rund um die Gesamtschuld, die meist auf Rechtsfolgenseite („Auf wen kann der Gläubiger in welcher Höhe zugreifen?“) oder im Rahmen eines Regresses zu diskutieren sind.

Eines der anspruchsvollsten Probleme dieses Themenfeldes ist die sog. gestörte Gesamtschuld, die wegen ihres Abstraktionsgrades und ihrer Variantenvielfalt gerade bei Jurastudierenden oft zu Verständnisproblemen führt. Dieser Beitrag bietet eine Hilfestellung zu den bestehenden Fallkonstellationen und den hierzu vertretbaren Lösungsmöglichkeiten.

Was ist die gestörte Gesamtschuld?

Die gestörte Gesamtschuld bezeichnet Fälle, in denen nach allgemeinen Grundsätzen zwei (oder mehr) Schädiger einem Gläubiger gesamtschuldnerisch haften würden. Zumindest einer von ihnen kann sich aber auf eine Haftungsprivilegierung berufen, weshalb nicht zwischen allen Schädigern ein Gesamtschuldverhältnis entsteht. Diese Konsequenz kann zu unbefriedigenden Ergebnissen führen, die auf verschiedene Weise korrigiert werden können. Im Folgenden wird die “Basisvariante” mit drei Beteiligten zugrunde gelegt.

Welche Fälle gibt es?

Die Anzahl der Fälle, bei denen eine Auseinandersetzung mit der gestörten Gesamtschuld erforderlich werden kann, ist kaum überblickbar. Die relevanten Variante lassen sich allerdings kategorisieren. In der Klausur kann schon die Zuordnung zur richtigen Kategorie eine vertretbare Lösung aufzeigen, da die Argumente für oder gegen eine Lösung innerhalb einer Kategorie dieselben sind.

  • Vertragliche Haftungsprivilegierungen

Die erste Kategorie umfasst Fälle vertraglicher Haftungsprivilegierungen. Ein Beispiel (BGH, Urt. v. 09.03.1972 – VII ZR 178/70):

Verein X ließ vom Werkunternehmer M ein Schullandheim umbauen und erweitern. Der Zuschlag für den Bauvertrag wurde dem mit Planung und Überwachung beauftragten Architekten I erteilt. In den AGB des M war die Verjährung von Mängelrechten wirksam auf zwei Jahre verkürzt worden. Nach Ablauf der erleichterten Verjährung bei M, aber vor Eintritt der gesetzlichen Verjährung bei I, kam es zu Schäden am Haus, weil Arbeiten am Dach mangelhaft durchgeführt worden waren.

Eine Haftungsprivilegierung des M ergibt sich aus der vertraglichen Verjährungserleichterung, da sich nur M auf den Einwand der Verjährung berufen konnte, nicht der I. Dem Grunde nach steht X gegen I ein Anspruch auf Schadensersatz nach §§ 650q Abs. 1, 634 Nr. 4, 280 Abs. 1 BGB zu, zu diskutieren ist aber die Anspruchshöhe.

  • Gesetzliche Haftungsprivilegierung “schlechthin”

Die zweite Kategorie umfasst bestimmte Fälle gesetzlicher Haftungsprivilegierungen. Gemeinsam haben diese gesetzlichen Privilegierungen, dass sie den Privilegierten “schlechthin” schützen sollen.[1] Ein bekanntes Beispiel (BGH, Urt. v. 01.03.1988 – VI ZR 190/87):

Der 22 Monate alte K stürzte auf einem von der Gemeinde B betriebenen Spielplatz von einem Podest aus 1,50m Höhe auf den unter dem Gerüst asphaltierten Boden und erlitt dabei erhebliche Verletzungen. Vater V stand bei dem Unfall neben K und schritt infolge einer kurzen Unaufmerksamkeit nicht ein. Der V handelte hierbei im Rahmen seiner eigenüblichen Sorgfalt.

Eine gesetzliche Haftungsprivilegierung des V ergibt sich hier aus § 1664 Abs. 1 BGB, der die Haftung bis zur Schwelle grober Fahrlässigkeit auf die eigenübliche Sorgfalt beschränkt. V handelte nicht grob fahrlässig und wahrte die eigenübliche Sorgfalt. K steht gegen B dem Grunde nach ein Anspruch nach § 823 Abs. 1 BGB zu, problematisch ist die Höhe des Anspruchs.

  • Gesetzliche Haftungsprivilegierung im Innenverhältnis

Die dritte Kategorie umfasst schließlich Fälle gesetzlicher Haftungsprivilegierungen, die den Privilegierten nicht schlechthin bzw. nur im Innenverhältnis zum Geschädigten privilegieren sollen.[2] Ein Beispiel (BGH, Urt. v. 16.01.1979 – VI ZR 243/76):

Der knapp drei Jahre alte W hielt sich mit seiner Mutter M in einem kleinen Laden auf, entwischte M dann aber und hüpfte auf dem Gehweg herum. Das bemerkte M, schritt aber trotz der Nähe zur Straße nicht ein. Nach den Feststellungen der Vorinstanz entsprach dies nicht ihrer eigenüblichen Sorgfalt. Beim Hüpfen geriet W auf die Straße und wurde vom Auto des Versicherungsnehmers V erfasst. Die Heilbehandlungskosten des W übernahm W’s Krankenversicherung K.

Der Direktanspruch von W gegen die V nach §§ 115 Abs. 1 Nr.  1 VVG, 7 StVG ist kraft Legalzession nach § 116 Abs. 1 SGB X auf die K übergegangen und besteht dem Grunde nach. Eine Haftungsprivilegierung der M folgt mangels Wahrung der eigenüblichen Sorgfalt nicht aus § 1664 Abs. 1 BGB, allerdings geht nach § 116 Abs. 6 SGB X der Anspruch gegen M nicht auf K über. Auch hier stellt sich die Frage nach der Höhe des Anspruchs gegen V.

Welche Lösungsmöglichkeiten gibt es?

Ein Obersatz bei der Prüfung des Anspruchs des Geschädigten gegen den nichtprivilegierten Schädiger (zur Erinnerung: wegen der Haftungsprivilegierung besteht gerade kein Anspruch gegen den privilegierten Schädiger) könnte lauten: “Allerdings könnte der Anspruch nach den Grundsätzen der gestörten Gesamtschuld zu kürzen sein.” Der Sinn dieses Obersatzes ergibt sich aus den Lösungsmöglichkeiten für das Problem:

Lösung 1: Der nichtprivilegierte Schädiger haftet dem Geschädigten allein und in voller Höhe. Beim privilegierten Schädiger kann er keinen Innenregress nehmen, da sie – aufgrund der Haftungsprivilegierung des einen Schädigers – keine Gesamtschuldner sind.

Lösung 2: Der nichtprivilegierte Schädiger haftet dem Geschädigten nach außen allein und in voller Höhe. Im Innenverhältnis kann der nichtprivilegierte beim privilegierten Schädiger aber analog § 426 BGB anteiligen Regress im Rahmen einer fingierten Gesamtschuld nehmen.

Lösung 3: Wie bei Lösung 2 darf der nichtprivilegierte Schädiger beim privilegierten Schädiger analog § 426 BGB Regress nehmen. Um die Privilegierung nicht leerlaufen zu lassen, kann der privilegierte Schädiger seinerseits beim Geschädigten Regress nehmen. Diese Konstruktion wird auch als “Regresszirkel” bezeichnet.

Lösung 4: Der nichtprivilegierte Schädiger haftet dem Geschädigten nach außen nur in Höhe seiner Verantwortung im Verhältnis zum privilegierten Schädiger. Das heißt: der Anspruch gegen den nichtprivilegierten Schädiger wird – parallel zum oben gebildeten Obersatz – um den Verantwortungsanteil des privilegierten Schädigers gekürzt. Ansprüche gegen den privilegierten Schädiger bestehen nicht.

Wenn die vierte Lösung angewendet wird, ist der Obersatz also zu bejahen.

Entscheidungsfindung

Die Entscheidung für eine der Lösungsmöglichkeiten sollte sich wertend an Sinn und Zweck der Haftungsprivilegierung orientieren:

Vertragliche Haftungsprivilegierungen werden zwischen dem Geschädigten und dem privilegierten Schädiger vereinbart. Sinn und Zweck ist die Entlastung des privilegierten Schädigers, nicht die Belastung des nichtprivilegierten Schädigers, der an dieser Vereinbarung nicht beteiligt ist.

Die Vereinbarung würde sich bei Lösung 1 als unzulässiger Vertrag zu Lasten Dritter auswirken. Wenn man die Privilegierung anerkennen, aber gleichzeitig nicht den unbeteiligten Dritten belasten möchte, kommen nur Lösung 3 oder 4 (zulasten des Geschädigten) in Frage. Das ist sachgerecht, weil der Geschädigte sich auf die Privilegierung eingelassen hat.

Die h.M. in der Rechtsprechung (auch der BGH in Beispiel 1) hält die Anwendung von Lösung 3 für geboten. Die h.L. bevorzugt hingegen die Anwendung von Lösung 4.[3]

Die Rechtsprechung argumentiert, eine Außenwirkung wie in Lösung 4 könne wegen der Relativität der Schuldverhältnisse im Zweifel nicht unterstellt werden. Die vertragliche Haftungsprivilegierung sei so auszulegen, dass der Geschädigte verpflichtet ist, den Privilegierten von der Haftung aus dem schädigenden Ereignis freizustellen, auch von Regressansprüchen des nichtprivilegierten Schädigers.[4] Unseres Erachtens ist mit der h.L. Lösung 4 vorzugswürdig, da nur so die Privilegierung effektiv verwirklicht wird. Nach Lösung 3 trägt der privilegierte Schädiger das Insolvenzrisiko des Geschädigten und steht schlechter, als er stünde, wenn er den Schaden allein verursacht hätte. Die vertragliche Haftungsprivilegierung kann auch als Vertrag zugunsten Dritter nach § 328 Abs. 1 BGB ausgelegt werden, der zugunsten des nichtprivilegierten Schädigers wirkt und eine unmittelbare Anspruchskürzung bewirkt.[5]

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Bei gesetzlichen Haftungsprivilegierungen muss unterschieden werden. In Beispiel 2 (BGH, Urt. v. 01.03.1988 – VI ZR 190/87) soll § 1664 I nach Sinn und Zweck den Familienfrieden und damit die gesamte Familie vor außenstehenden Schädigern schützen.[6] Nach ganz h.M. darf daher die Privilegierung weder zulasten des Kindes als Geschädigtem noch zulasten des Vaters als privilegiertem Schädiger gehen. Einschlägig ist somit Lösung 1 zulasten des nichtprivilegierten Schädigers.

Im dritten Beispiel (BGH, Urt. v. 16.01.1979 – VI ZR 243/76) soll die Privilegierung nach § 116 Abs. 6 SGB X den Geschädigten nach Sinn und Zweck davor schützen, dass der ihm zugeflossene Vermögensvorteil (Zahlung durch die Versicherung) durch einen Rückgriff der Versicherung auf ein mit dem Geschädigten wirtschaftlich verbundenes Familienmitglied entwertet wird.[7] Das Risiko, das für die Versicherung aus der damit verbundenen Schlechterstellung folgt, lässt diese sich regelmäßig in den Versicherungsbeiträgen vergüten. Daher wendet hier – im Unterschied zu Beispiel 2 – die ganz h.M. Lösung 4 zulasten des Anspruchstellers (der Versicherung) an.

Fazit: Zu wessen Lasten ist der Konflikt zu lösen?

Die gestörte Gesamtschuld umfasst gesamtschuldnerische Konstellationen, in denen mindestens ein Schädiger haftungsprivilegiert ist. Zu beachten sind immer die Beteiligten: Geschädigter, privilegierter Schädiger und nichtprivilegierter Schädiger. Zu wessen Lasten dieser Konflikt aufzulösen ist, muss wertend anhand des Telos der Haftungsprivilegierung entschieden werden.

Bei einer Falllösung bietet es sich an, das Problem beim Anspruch Geschädigter – nichtprivilegierteSchädiger mit Lösung 4 – der Frage einer Anspruchskürzung – einzuleiten und dann die verschiedenen Lösungsansätze zu diskutieren. Unter Anwendung der juristischen Methoden und allgemeinen Prinzipien ist in einer Klausur vieles vertretbar.


[1] Kreße, in: BeckOGK BGB § 426, Rz. 28, Stand 01.12.2022.
[2] Kreße, in: BeckOGK BGB § 426, Rz. 28, Stand 01.12.2022.
[3] Heinemeyer, in: MüKo BGB, 9. Aufl. 2022 § 426, Rz. 61.
[4] Kreße, in: BeckOGK BGB, Stand: 01.12.2022 § 426, Rz. 27; Looschelders, in: Staudinger BGB, Neubearbeitung 2022 § 426, Rz. 178.
[5] Kreße, in: BeckOGK BGB, Stand: 01.12.2022 § 426, Rz. 24.
[6] Looschelders, Schuldrecht AT, 20. Aufl. 2022 § 54, Rz. 40.
[7] Kater, in: BeckOGK SGB X § 116, Rz. 241, Stand 01.05.2021.

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Levin Maurer & Marcel Lukacic
Levin Maurer & Marcel Lukacic
Levin Maurer hat im Januar 2023 sein Erstes Staatsexamen in Tübingen abgeschlossen und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Heuking Kühn Lüer Wojtek, Stuttgart. Marcel Lukacic hat im Januar 2023 sein Erstes Staatsexamen in Tübingen abgeschlossen und arbeitet als studentischer Mitarbeiter bei iuscomm Rechtsanwälte, Stuttgart.

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