Das Schöffenamt: Anspruch und Wirklichkeit der ehrenamtlichen Richter:innen in Deutschland

Nach §§ 30, 77 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) nehmen die Schöffinnen und Schöffen an der Hauptverhandlung in gleichem Umfang und mit gleicher Stimme wie die Berufsrichter:innen teil. Dass Bürgerinnen und Bürger auf der Richterbank laut Berechnungen von Experte Hasso Lieber tatsächlich nur noch an deutlich unter 10 % aller Strafverfahren beteiligt sind (Berechnungen aus Justizstatistik 2021), ist weniger bekannt.

Die Eignungs- und Ausschlusskriterien für das Schöffenamt, wie in § 31-35 GVG dargelegt, beschreiben formale Voraussetzungen für das richterliche Ehrenamt in der Strafgerichtsbarkeit. Die deutsche Staatsbürgerschaft, ein Alter von 25 bis 69 Jahren bei Amtsbeginn, das Fehlen von Insolvenz oder Vorstrafen sowie die gesundheitliche Voraussetzung für eine mehrstündige Hauptverhandlung sind die wichtigsten. Diese Eigenschaften müssen Bewerber:innen für das Schöffenamt auf dem Bewerbungsbogen an ihre Gemeinde per Unterschrift bestätigen. Jugendschöffinnen und -schöffen sollen haupt- oder ehrenamtlich erzieherisch befähigt sein, siehe § 35 Abs. 2 JGG.

Fast jede Person kann, aber nicht jeder Mensch sollte Schöffin oder Schöffe werden – siehe Videobeitrag.

Wie die Vorgabe des BVerfG umgesetzt wird, dass “die Landesjustizverwaltungen streng darauf zu achten (haben), dass zum ehrenamtlichen Richter nur Personen ernannt werden dürfen, die die Gewähr dafür bieten, dass sie die ihnen von Verfassungs und Gesetzes wegen obliegenden, durch Eid bekräftigten richterlichen Pflichten jederzeit uneingeschränkt erfüllen werden”, bleibt seit Jahrzehnten offen (BVerfG, Beschl. v. 06.05.2008, Az. 2 BvR 337/08). Wenn in Einzelfällen extremistische Schöffinnen und Schöffen mit auf der Richterbank sitzen, wären deren Gemeinden zu befragen, wie das eigentlich passieren konnte. Denn die Gemeinden setzen Bewerber:innen auf die Schöffenvorschlagslisten.

Offen ist, wer genau die circa 60.000 deutschen Schöffinnen und Schöffen eigentlich sind. Eine entsprechende Statistik, die nachweisen könnte, dass der repräsentative Querschnitt durch die Bevölkerung im Schöffenamt tatsächlich erfüllt ist, wurde 1998 abgeschafft. Die Statistik des Bundesamtes für Justiz kommuniziert neben der nahezu erfüllten Geschlechtergleichheit nur die Haupt-, jedoch nicht die Ersatzschöffen.

Schöffenamt: maximale Eigenverantwortung

Das GVG sagt nichts über erforderliche “soft skills” im Schöffenamt. Absolute Termintreue und vorausplanende Urlaubsabstimmung bei ca. zwölf vorausgelosten möglichen Anfangsterminen pro Jahr, unterscheiden das Schöffenamt grundsätzlich von allen anderen Ehrenämtern der Republik. Dass potentielle weitere Verhandlungstage bis hin zu Umfangsverfahren das Schöffenamt zeitlich unkalkulierbar machen, ist eine oft verschwiegene Wahrheit. Die mögliche Verhängung von Ordnungsgeldern bei Nichterscheinen zwischen fünf und 1.000 Euro zuzüglich Auferlegung der Kosten untermauert die Einzigartigkeit des richterlichen Ehrenamtes gegenüber anderen Ehrenämtern eindrucksvoll.

Das Schöffenamt erfordert stundenlanges, proaktives Verfolgen der Hauptverhandlung mit grundsätzlichem Verständnis aller Sachverhalte. Für juristische Laien ist das eine hohe Anforderung, zumal umfangreiche Aktenkenntnis im Schöffenamt nicht vorgesehen ist. Schöffinnen und Schöffen sollen Beweise allein aufgrund der in der mündlichen Verhandlung festgestellten Tatsachen würdigen.

Dem gesetzlich garantierten Fragerecht der Schöffinnen und Schöffen steht hinderlich gegenüber, dass zu Art und Procedere der Fragestellung keinerlei Schöffenschulungen oder gar Begleitung der fünfjährigen Amtszeit stattfinden – bisher. Auch kann im Schöffenamt keine Routine entstehen, wenn für einzelne Ehrenamtler immer wieder über längere Zeit gar keine Verhandlung ansteht. Als Grund hierfür wird vermutet, dass schlichtweg zu viele Schöffinnen und Schöffen gewählt werden.

Die richterliche Beratung der haupt- und ehrenamtlichen Kammermitglieder findet nicht erst nach der Beweisaufnahme, sondern auch in den Pausen der Hauptverhandlung im Beratungszimmer statt. Hier werden Eindrücke ausgetauscht, Aussagen zwischenbewertet und Verständnisfragen erörtert. Kommunikative Schöffinnen und Schöffen können und müssten spätestens hier “Augenhöhe” mit den Hauptamtlichen beweisen, schweigende Beisitzer:innen hingegen sind jetzt schnell abgehängt. Unkommunikative, kritikunfähige Abnicker:innen sind im Schöffenamt falsch.

Schöffenwahl: maximal unterschiedlich

Die Schöffenwahl, die §§ 36-44 GVG sowie Verwaltungsvorschriften der Bundesländer regeln, ist Sache der Gemeinden und zeigt seit Jahrzehnten eine maximale Handlungsweite.

Berlin kommunizierte die Schöffenwahl im Herbst 2022 und stellte bereits wenige Wochen später fest, es hätten sich nicht genügend Bewerber:innen gemeldet. Man solle bitte beigefügten Erfassungsbogen ausfüllen. Die hessische Verwaltungsvorschrift hingegen erschien erst Ende Januar 2023. Die Landeshauptstadt Wiesbaden veröffentlichte als Meldefrist für Bewerber:innen den 19. Mai 2023. Wer in Wiesbaden wohnt, hat also faktisch einige Monate mehr Zeit, sich als Bürger:in mit einer eventuellen Bewerbung ins Schöffenamt zu beschäftigen. An einer Diskussion darüber, ob dieses Procedere demokratischen Standards genügt, zeigt bislang niemand Interesse. Nicht wenige Gemeinden machen die Schöffenwahl gar nicht öffentlich bekannt sondern regeln das Schöffenrecruiting “intern”.

Der Vorwurf hingegen, Bewerber:innen für das Schöffenamt landeten aufgrund ihres Parteibuchs auf der Vorschlagsliste, greift zu kurz. Dass demokratische Parteien eine Vorauswahl aus Mitgliedern oder Anhänger:innen treffen (Prinzip “von Person bekannt”), kann eine Verfassungstreue zumindest initial sicherstellen. Nicht zu unterschätzen ist zudem, dass nicht wenige Schöffinnen und Schöffen vielfach gesellschaftlich und sozial engagiert sind. Auch aus gesellschaftlichen Organisationen wie den Gewerkschaften stammen traditionell ehrenamtliche Richter:innen.

Demgegenüber könnte der Verdacht genährt werden, man “mache Dinge unter sich aus”. Wie das Schöffenamt bei offensichtlich abnehmender Parteienbindung auf kommunaler Ebene gestärkt werden soll, wird bislang nicht diskutiert.

Zum Ablauf der Schöffenwahl in den Kommunen: https://www.schoeffenwahl.de

Extremismus-Prävention: gesellschaftliche Aufgabe

Alle fünf Jahre wieder, rechtzeitig zur Schöffenwahl, geht die Meldung zu extremistischen Bewerber:innen um, die das Schöffenamt unterwandern könnten. Abgesehen davon, dass jede Entscheidung über Schuld und Strafe die 2/3-Mehrheit der Kammermitglieder erfordert, ist dies eine Symptomdiskussion. Ursache hingegen ist der faktisch machtlose Schöffenwahlausschuss. Bevor dieser “wählt”, haben die Gemeinde- bzw. Stadtverordnetenversammlungen über die doppelte Anzahl der benötigten Schöffinnen und Schöffen auf Vorschlagslisten abgestimmt und die Listen sind öffentlich ausgelegt worden. Gegen die Kandidatinnen und Kandidaten auf der Liste kann jede Person Einspruch erheben, siehe § 36 GVG.

Der Schöffenwahlausschuss am Amtsgericht hat kein Instrument an der Hand, um Bewerber:innen zu überprüfen. Video zur Diskussion einer “Gesinnungsprüfung” im Schöffenamt

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In seinem Buch “Rechte Richter” (Berliner Wissenschafts-Verlag) seziert Autor Joachim Wagner die verschiedenen Methoden, mit denen der Ausschuss in Grossstädten innerhalb kürzester Zeit unter Hunderten von Bewerber:innen zur benötigten Anzahl der neuen Schöffinnen und Schöffen kommt. Vorschläge wie der von Experte Hasso Lieber, das zweistufige Wahlverfahren auf ein einstufiges in den Gemeinden zu reduzieren, haben bislang kein durchdringendes Gehör in Rechtspolitik und Gesellschaft gefunden. Die Gemeinden sind hauptverantwortlich für die Bewerber:innen-Auswahl. Ob und wie sie diese Verantwortung wirklich wahrnehmen, bleibt ihnen überlassen.

Kontrolle, Kommunikation, Partizipation

Im Schöffenamt begegnen sich Juristinnen und Juristen einerseits sowie Bürger:innen andererseits auf der Richterbank, um mit gleicher Stimme zu einem Urteil zu finden. Dabei tragen die einen Fachwissen aus StGB und StPO bei, die anderen Menschenkenntnis, Berufserfahrung und Alltagswissen. Die einen werden im Studium mehrfach geprüft. Die anderen müssen sich ihre Position teils mühsam erkämpfen. Die durch die Justiz im Mai 2021 zunächst verweigerten Impfpriorisierungen von Schöffinnen und Schöffen, die zweifelsfrei zur Kritischen Infrastruktur (KRITIS) gehören, sind nur ein Beispiel von vielen.

Bürgerinnen und Bürger im Schöffenamt werden vor, während und nach ihrer Bewerbung vom Staat weitgehend alleingelassen. Die Justizministerien der Länder gehen höchst unterschiedlich mit Bedarfen ehrenamtlicher Richter:innen um. Die Quote der zum Schöffenamt unfreiwillig Verpflichteten ist unbekannt, weil Gemeinden darüber keine Statistiken veröffentlichen.

Das Wesen des Schöffenamts ist die Kontrolle der Justiz durch Bürgerinnen und Bürger. “Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus” (Art. 20 GG). Im Prozess der Kommunikation zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen mit den Prozessbeteiligten, also im wortwörtlichen Verhandeln über Tatsachen, wird die Partizipation des Volkes an der Rechtsprechung Wirklichkeit. Im Idealfall führt dieser Prozess zu mehr Verständlichkeit des Gesagten und Gemeinten und zu mehr Verständnis für das Gesetz. Im Schöffenamt erhalten Schöffinnen und Schöffen die Möglichkeit, diesen Idealfall möglichst oft zu verwirklichen. Aber, wie Experte Hasso Lieber sagt: “Das Volk muss diese Staatsgewalt eben auch ausüben wollen und sich um sie kümmern.”

Neben dringend notwendigen Reformen des Schöffenamts selbst entscheidet also die Kommunikation über das Schöffenamt über seine Bekanntheit und seine Wichtigkeit. Nur dann kann die Staatsgewalt von geeigneten Bürgerinnen und Bürger sorgsam mit ausgeübt werden. Die Tatsache, dass das Schöffenamt nur alle fünf Jahre im Fokus steht – nämlich vor den nächsten Schöffenwahlen – hält das Amt unter der Decke der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Für eine digitale Gesellschaft im Umbruch sollte dies als zutiefst unakzeptabel gelten.


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Jörg Schmitz
Jörg Schmitz
Jörg Schmitz (53) ist in der Schöffenwahlperiode 2019-2023 Schöffe am Landgericht Hanau. Er hat den YouTube-Kanal www.schoeffen.tv gegründet. Mit Unterstützung der Hessischen Staatskanzlei laufen dort derzeit Infovideos zum Schöffenamt und zur Schöffenwahl.

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