Der Gemüseblatt-Fall: Vorvertragliches Schuldverhältnis mit Schutzwirkung zugunsten Dritter?

-Werbung-spot_imgspot_img

Vom sog. Gemüseblatt-Fall hat man während des Jurastudiums sicherlich mehrfach gehört. Er zählt zu den absoluten Klassikern des Zivilrechts. Entschieden wurde der Fall vom Bundesgerichtshof (BGH) bereits 1976. Allerdings ist er mit einer erneuten Entscheidung des BGH im Jahr 2022 wieder hoch aktuell geworden. Eingeprägt hat sich der Fall wohl aufgrund seines kuriosen Sachverhalts.

1963 begab sich das damals 14-jährige Mädchen (spätere Klägerin) mit ihrer Mutter in einen Selbstbedienungsladen der späteren Beklagten. Während die Mutter nach Aussuchen der Waren noch an der Kasse stand, ging das Mädchen um die Kasse herum zur Packablage, um ihrer Mutter beim Einpacken behilflich zu sein. Dabei fiel sie zu Boden und zog sich einen schmerzhaften Gelenkbluterguß am rechten Knie zu, der eine längere, zeitweilig stationäre ärztliche Behandlung und einen operativen Eingriff erforderlich machte. Das Mädchen war gestürzt, weil sie auf einem Gemüseblatt ausrutschte. Sie (bzw. ihre Mutter) verlangte nun vom Inhaber des Selbstbedienungsladens Schmerzensgeld sowie Ersatz der Behandlungskosten.

Tipps fürs Jurastudium

Vorvertragliches Schuldverhältnis

Zunächst war problematisch, dass noch gar kein Vertragsschluss mit dem Inhaber des Selbstbedienungsladens zustande gekommen war. Denn das Mädchen rutschte vor dem Zustandekommen des Kaufvertrags an der Kasse aus, als seine Mutter noch dabei war, Waren auszusuchen. Zum damaligen Zeitpunkt war der Schadensersatzanspruch aus einem vorvertraglichen Schuldverhältnis, sog. culpa in contrahendo (c.i.c.) noch nicht im BGB verankert, aber gewohnheitsrechtlich und höchstrichterlich anerkannt. Erst seit der Schuldrechtsmodernisierung 2002 ergibt sich dieser Anspruch aus §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB. Dass ein solches vorlag, nahm der BGH unstreitig an. Die Mutter der Geschädigten habe sich mit Kaufabsicht in den Selbstbedienungsladen begeben. Dass der Inhaber auch grundsätzlich für Schäden haften muss, nahm der BGH ebenfalls an:

„Die aus diesem Schuldverhältnis hergeleitete Haftung für die Verletzung von Schutz- und Obhutspflichten findet bei Fällen der vorliegenden Art ihre Rechtfertigung darin, daß der Geschädigte sich zum Zwecke der Vertragsverhandlungen in den Einflußbereich des anderen Teiles begeben hat und damit redlicherweise auf eine gesteigerte Sorgfalt seines Verhandlungspartners vertrauen kann.“

Und weiter: „Das bestätigt gerade der vorliegende Fall, in dem die Mutter der Klägerin zum Zwecke des Kaufabschlusses die Verkaufsräume der Beklagten aufsuchen und sich damit einer Gefährdung, wie sie erfahrungsgemäß der verstärkte Publikumsverkehr vor allem in der Kassenzone eines Selbstbedienungsladens mit sich bringt, aussetzen mußte.“

Schaden bei der Tochter

Nun ist aber nicht die Mutter auf einem Gemüseblatt ausgerutscht, sondern ihre Tochter. Eine Haftung aus culpa in contrahendo setzt bei derartigen Kaufverträgen aber voraus, dass der Geschädigte sich mit dem Ziel des Vertragsschlusses oder zumindest der Anbahnung geschäftlicher Kontakte in die Verkaufsräume begeben hat. Zumindest letzteres lag hier unstrittig vor, denn die Mutter sah sich im Laden nach interessanten Waren um:

„Dabei mag dahinstehen, ob es angesichts der Besonderheiten des Kaufes in einem Selbstbedienungsladen bereits ausreicht, wenn der Kunde beim Betreten der Verkaufsräume zunächst lediglich die Absicht hat, sich einen Überblick über das Warenangebot zu verschaffen und sich dadurch möglicherweise zum Kauf anregen zu lassen, oder wenn er vorerst nur einen vorbereitenden Preisvergleich mit Konkurrenzunternehmen vornehmen will.“

Problemtisch ist hier jedoch, dass der Schaden (also die Verletzung) bei der Tochter eintrat, die nicht Vertragspartnerin werden sollte.

Tochter wollte aber keinen Vertragsschluss

Die Tochter selbst hatte gerade gar keine Absicht einen Vertragsschluss herbeizuführen. Vielmehr begleitete sie ihre Mutter und wollte sie bei dem Einkauf unterstützen. Eine unmittelbare Anwendung der culpa in contrahendo scheidet also aus. Dabei beließ es der BGH aber nicht. Vielmehr führte er weiter aus:

„Wäre die Mutter der Klägerin auf dieselbe Weise wie ihre Tochter zu Schaden gekommen, so bestünden gegen die Haftung der Beklagten aus culpa in contrahendo […] keine Bedenken. […] Jedenfalls läßt der Zusammenhang der Urteilsgründe, erkennen, daß im Unfallzeitpunkt zwischen der Beklagten und der Mutter der Klägerin, die die zum Kauf vorgesehenen Waren bereits endgültig ausgewählt hatte, bereits ein die Haftung aus culpa in contrahendo rechtfertigendes gesetzliches Schuldverhältnis bestand.“

Anspruch ohne Schaden und Schaden ohne Anspruch

Der Mutter stünde also insoweit ein Anspruch zu. Einen Schaden hat sie aber nicht erlitten. Die Tochter hat einen Schaden erlitten, selbst aber keinen vertraglichen Anspruch. Allein über das Deliktsrecht kann auch kein ausreichender Rechtsschutz erreicht werden, da hierfür die Lücken des Deliktsrechts (keine Anwendung des § 278 BGB, Möglichkeit der Exkulpation) zu groß sind. Um diesem Missverhältnis entgegen zu wirken, greift der Senat auf den sog. Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter zurück. Dies hat zur Folge, dass am Vertragsschluss selbst nicht beteiligte Dritte in den Schutzbereich eines Vertrages einbezogen werden. Allerdings steht dem Dritten gerade kein Anspruch auf Erfüllung der primären Leistungspflicht zu, wohl aber auf durch den Vertrag gebotenen Schutz und Fürsorge. Wird diese vertragliche Nebenpflicht verletzt, kann der Dritte Schadensersatzansprüche im eigenen Namen geltend machen.

Ob sich ein solcher Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter aus einer ergänzenden Vertragsauslegung gem. §§ 133, 157 BGB, aus Gewohnheitsrecht oder aufgrund richterlicher Rechtsfortbildung ergibt, bedarf nach dem BGH keiner weiteren Vertiefung: „Nach beiden Auffassungen kommt es jedenfalls entscheidend darauf an, daß der Vertrag nach seinem Sinn und Zweck und unter Berücksichtigung von Treu und Glauben eine Einbeziehung des Dritten in seinen Schutzbereich erfordert und die eine Vertragspartei – für den Vertragsgegner erkennbar – redlicherweise damit rechnen kann, daß die ihr geschuldete Obhut und Fürsorge in gleichem Maße auch dem Dritten entgegengebracht wird.“

Voraussetzungen Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter

Die Voraussetzungen für eine Einbeziehung des Dritten über die Grundsätze des Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter sind also:

  1. Leistungsnähe – Der Dritte (hier die Tochter) muss mit der Leistung aus dem Vertrag bestimmungsgemäß in Berührung kommen. Er muss den Gefahren des Vertrages ebenso ausgesetzt sein wie der Gläubiger (hier die Mutter) selbst.
  2. Gläubigernähe – Der Gläubiger muss ein Interesse daran haben, den Dritten in seinen Vertrag mit dem Schuldner (hier dem Ladeninhaber) miteinzubeziehen. Liegt ein Schaden mit personenrechtlichem Einschlag vor, reicht grundsätzlich die Wohl-und-Wehe-Formel aus. Hier war die Mutter für das Wohl und Wehe der Tochter verantwortlich.
  3. Erkennbarkeit – Die Leistungs- und die Gläubigernähe müssen für den Schuldner subjektiv erkennbar sein.
  4. Schutzbedürftigkeit – Der Dritte muss schutzbedürftig sein. Das ist der Fall, wenn er keinen eigenen vertraglichen (!) Anspruch hat.

Liegen alle Voraussetzungen vor, kann der Dritte den Schadensersatzanspruch selbst geltend machen. Problematisch könnte nun noch sein, dass zwischen der Mutter und dem Inhaber aber schon nur ein vorvertragliches Schuldverhältnis vorlag. So könnte man grundsätzlich argumentieren, dass das Haftungsrisiko des Ladeninhabers zu weit ausgedehnt würde. Dies sah der BGH aber nicht als problematisch, sondern als notwendige Schlussfolgerung an.

„Gerade wenn man die Schutz- und Fürsorgepflicht als maßgeblichen Inhalt des durch die Anbahnung von Vertragsverhandlungen begründeten gesetzlichen Schuldverhältnisses ansieht und berücksichtigt, daß der Vertragspartner diese Obhutspflicht gleichermaßen vor wie nach Vertragsabschluß schuldet, ist die Einbeziehung Dritter, in gleicher Hinsicht schutzwürdiger Personen in dieses gesetzliche Schuldverhältnis nur folgerichtig.“

Dem Kritikpunkt der möglichen Ausuferung des Haftungsrisikos des Schuldners, tritt der BGH damit entgegen, dass er strenge Anforderungen an das Bestehen eines Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter stellt.

Der Tochter stand also ein eigener Schadensersatzanspruch gegen den Ladeninhaber zu.

Ausrutschen auf Weintraube begründet Anspruch aus c.i.c.

Nach über 60 Jahren hatte der BGH nun einen ähnlichen Fall zu entscheiden. Diesmal ging es um eine Kundin, die ein Möbelhaus in Kaufabsicht betreten hatte und auf einer Weintraube ausrutschte. Infolge dessen musste ihr eine Hüftendoprothese implantiert werden. Das Problem, ob ein Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter vorlag, stellte sich schon von Anfang an nicht, da sie selbst geschädigt wurde. Der BGH stellte aber wiederum fest, dass ein vorvertragliches Schuldverhältnis vorlag, sodass ein Schadensersatzanspruch gem. §§ 280 Abs 1, 311 Abs. 2 Nr. 2, 241 Abs. 2 BGB bestand.

Darüber hinaus machte er aber auch Ausführungen zur Beweislastverteilung im Rahmen des § 280 Abs. 1 S. 2 BGB. Zunächst führte der BGH aus, dass der Gläubiger (hier die Kundin) gem. § 280 Abs. 1 S. 1 BGB die Beweislast für die Pflichtverletzung trägt und der Schuldner (hier der Inhaber) nach § 280 Abs. 1 S. 2 BGB beweisen muss, dass er die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat.

Überschneidung der Pflichtwidrigkeit mit dem Vertretenmüssen

Im Falle der im Raum stehenden Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht gebe es aber eine Besonderheit, so der BGH. Die Pflichtwidrigkeit (§ 280 Abs. 1 S. 1 BGB) überschneide sich mit dem Vertretenmüssen aus § 280 Abs. 1 S. 2 BGB.

„Zum Verschulden gehört ein äußeres Fehlverhalten, im Fall der Fahrlässigkeit der Verstoß des äußeren Verhaltens gegen die im Verkehr erforderliche Sorgfalt (§ 276 Abs. 2 BGB). Infolgedessen verliert die Regelung des § 280 Abs. 1 BGB für diese Fälle ihre Eindeutigkeit. Die Beweislastverteilung wird in diesen Fällen somit durch die Unterscheidung zwischen Pflichtverletzung und Verschulden nicht definitiv bestimmt.“

Somit muss der Schuldner darlegen und auch beweisen, dass ihn keine Pflichtverletzung treffe, wenn die für den Schaden in Betracht kommende Ursache allein in seinem Gefahrenbereich liege. Die Betreiberin des Möbelhauses hätte somit beweisen müssen, dass sie die zur Vermeidung von Unfällen erforderlichen Maßnahmen getroffen hat.

Aus beiden Entscheidungen bleibt aber festzuhalten, dass das Bestehen eines vorvertraglichen Schuldverhältnisses und eines Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern auch kumulativ vorliegen können.

Tipp: Ich habe noch eine Eselsbrücke für euch, um sich in Abgrenzung zur Drittschadensliquidation merken zu können, ob der Schaden zum Anspruch oder der Anspruch zum Schaden gezogen wird.

DrittSchAdensliquidation: Schaden zum Anspruch (S à A)
VertrAg mit Schutzwirkung zugunsten Dritter: Anspruch zum Schaden (A à S)


Entscheidungen:

BGH, Urt. v. 28.01.1976, Az. VIII ZR 246/74 (Gemüseblatt)
BGH, Urt. v. 25.10.2022, Az. VI ZR 1283/20 (Weintraube)

-Werbung-
Florentine Scheffel
Florentine Scheffel
Rechtsreferendarin in Thüringen.

Ähnliche Artikel

Social Media

10,950FollowerFolgen
3,146FollowerFolgen
Download on the App Store
Jetzt bei Google Play
-Werbung-spot_img
-Werbung-

Letzte Artikel