Jurastudium: Warum die Auslegungsmethoden wirklich wichtig sind

Während des Jurastudiums wird einem immer wieder intensiv geraten, die sog. Auslegungsmethoden anzuwenden. Gerade in den ersten Semestern wird die Auslegung aber meist nicht vorgenommen, sondern Streitstände werden stupide auswendig gelernt und in der Klausur abgespult. Das zeigt zwar, dass die Kandidat:innen gut auswendig lernen können, eine gedankliche Eigenleistung ist aber so nicht erkennbar.

Das Lernen im Jurastudium soll aber nicht aus dem Auswendiglernen bestehen, sondern aus der Arbeit mit dem Gesetz. Diese Arbeit mit dem Gesetz erfolgt auch durch die Gesetzesauslegung. Die klassischen Auslegungsmethoden gehen auf Friedrich Carl Savigny aus dem Jahr 1840 zurück, welche später noch erweitert wurden. Die von Savigny begründeten Methoden umfassen die grammatische, systematische, historische und teleologische Auslegung.

Tipps fürs Jurastudium

Auslegung nach dem Wortlaut

Im Rahmen der Auslegung einer Norm nach ihrem Wortlaut gilt es die Bedeutung einer Norm oder eines einzelnen Begriffs anhand des Wortsinns und des Satzbaus zu ermitteln. Auf den ersten Blick mag das sehr einfach aussehen. Allerdings enthalten viele Normen sog. unbestimmte Rechtsbegriffe, sodass die Begriffe mehrdeutig sein können, z.B. die “unlautere geschäftliche Handlungen” nach § 1 S. 1 UWG. Außerdem ist auch durch den Gesetzgeber nicht immer klar formuliert auf welchen Teil der Norm sich Tatbestandsmerkmale beziehen. Ein klassisches Beispiel ist § 266 Abs. 1 StGB, bei dem problematisch ist, ob eine Vermögensbetreuungspflicht auch bei dem Missbrauchstatbestand erforderlich ist.

Zugleich bildet der Wortsinn aber auch die äußerste Grenze der Gesetzesinterpretation. Alles was darüber hinaus geht, stellt eine Rechtsfortbildung dar. Das ist insbesondere im Strafrecht enorm wichtig, wo der Wortlaut die absolute Grenze zulässiger Auslegung darstellt (Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB und Art. 7 Abs. 1 EMRK).

Systematische Auslegung

Dass unsere Rechtsordnung weder nur aus einem Gesetz noch aus einer einzelnen Norm besteht, ist klar. Aber auch die Normen selbst sind nicht wahllos aneinandergereiht, sondern zu einem einheitlichen System verbunden. Deshalb können im Umkehrschluss auch Erkenntnisse aus dem Standort einer Norm gewonnen werden. Anhaltspunkte sind z.B. welcher Teilrechtsordnung die Norm zuzuordnen ist. Also z.B. der Abschnitt, in welchem die Norm steht; die vorhergehenden und nachfolgenden Normen und die amtliche Überschrift.

Zu der systematischen Auslegung kann man aber auch die Betrachtung in Form eines Erst-Recht-Schlusses (sog. argumentum a fortiori) zählen. Dieser kann sowohl vom Kleinen auf das Größere erfolgen (sog. argumentum a minore ad maius) als auch vom Größeren auf das Kleinere (sog. argumentum a maiore ad minus). Auch eine Wertung durch einen Umkehrschluss (sog. argumentum e contrario) ist möglich.

Neben dieser äußeren Systematik muss aber auch die innere Systematik beachtet werden. Die Normen müssen so ausgelegt werden, dass sie im Ganzen ein widerspruchsfreies inneres System bilden, Stichwort: Einheit der Rechtsordnung. Aus diesem Grund wurde die klassische Auslegungslehre Savignys um die verfassungskonforme und unionsrechtskonforme, insbesondere richtlinienkonforme Auslegung erweitert. So darf die Auslegung weder zu einem Verfassungsverstoß noch zu einem Verstoß gegen EU-Recht führen.

Historische Auslegung

Über die bloße Systematik hinaus ist die Norm auch immer in einen historischen Kontext eingebettet. So kann zum einen auf die Entstehungsgeschichte der Norm selbst, zum anderen aber auch auf das geschichtliche Umfeld beim Normerlass abgestellt werden.

Diese Auslegungsmethode ist in der Klausur schwierig. Denn zu kaum einer Norm wird man auswendig deren Entstehungsgeschichte kennen. In der Hausarbeit, wo man viel Zeit zum recherchieren hat, kann ein Blick in die Gesetzesbegründung aber sehr erhellend sein.

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Auslegung nach Sinn & Zweck: Telos

Als vierte Auslegungsmethode steht die teleologische Auslegung zur Verfügung. Gesetze selbst sind nichts anderes als Steuerungs- oder Lenkungsmittel zum Verfolgungen eines bestimmten Zwecks. Dieser Zweck kann z.B. im Schutz bestimmter Rechte, Güter oder Interessen liegen. Die Rechtsanwender:innen haben dann die Aufgabe den Sinn und Zweck einer Norm zu erfassen und die Norm danach entsprechend auszulegen und anzuwenden. Eine Wertung kann im Rahmen dessen durch einen Schluss vom absurden Ergebnis auf die falsche Auslegung erfolgen (sog. argumentum ad absurdum). Es wird also gerade nicht die Richtigkeit eines Ergebnisses begründet, sondern negativ eine andere widerlegt.

Zueinander stehen die Auslegungsmethoden aber keinesfalls in einem Konkurrenzverhältnis, sondern sind immer nebeneinander anzuwenden. Das ergibt sich schon aus sich selbst heraus, da erst durch eine Beleuchtung von allen Seiten gewährleistet wird, dass kein wesentlicher Gesichtspunkt außer Acht gelassen wird.

Teleologische Reduktion

Allerdings kann es auch vorkommen, dass der Wortlaut einer Norm zwar einen Sachverhalt erfasst, dieser aber nach seinem Sinn und Zweck gerade nicht unter die Norm fallen soll. Dann schießt der Wortlaut über den Zweck hinaus. Dieses Problem lässt sich aber nicht mehr durch die bloße Auslegung lösen, da die Auslegungsmethoden gleichrangig sind. Deshalb muss eine Rechtsfortbildung in Form einer teleologischen Reduktion erfolgen. Die Norm wird restriktiv (einschränkend) ausgelegt. Standardbeispiel für eine restriktive Auslegung ist der Begriff des Mordmerkmals der Heimtücke.

Analogie

Das Gegenstück zur teleologischen Reduktion ist die Analogie. Bei dieser ist der vorliegende Sachverhalt zwar nicht vom Wortlaut, jedoch aber von dem Sinn und Zweck der Norm erfasst. Nur weil aber ein Sachverhalt vom Sinn und Zweck erfasst ist, kann aber noch keine analoge Anwendung erfolgen. Diese würde dem Willen des Gesetzgebers widersprechen, der eventuell einen Sachverhalt gerade nicht regeln wollte. Deshalb muss für eine Analogie eine planwidrige Regelungslücke bei vergleichbarer Interessenlage vorliegen. Das Prüfungsschema sieht deswegen folgendermaßen aus:

  1. Regelungslücke
    = Regelungslücke heißt, dass dieser Fall von keiner Norm in direkter Anwendung erfasst ist.
  2. Planwidrigkeit
    = wenn der Gesetzgeber gewollt hat, dass ein bestimmter Fall von der Regelung gerade erfasst ist, diesen aber ausversehen nicht mitgeregelt/mitbedacht hat.
  3. Vergleichbare Interessenlage
    = wenn sich beide Sachverhalte in allen grundsätzlichen Merkmalen gleichen, aber nicht genau übereinstimmen.

Subsumtion durch Argumentation

Die Anwendung der Auslegungsmethoden ist dabei aber nicht reiner Selbstzweck. Während des Studiums muss konsequent der Gutachtenstil angewendet werden. Bestehend aus Obersatz, Definition, Subsumtion und Schlusssatz (Ergebnis). Die Subsumtion stellt hierbei das zentrale Bewertungselement dar. Um aber eine gute Subsumtion leisten zu können, muss der vorliegende Sachverhalt unter das Gesetz gebracht (subsumiert) werden. Ob der Sachverhalt zu dem entsprechenden Gesetz passt, erfolgt durch Auslegung. Nur so gelangt man auch zu möglichen Problemkonstellationen, die einer weiteren Erörterung bedürfen, Stichwort: Hinführung zum Problem. Auch darauf werden Notenpunkte verteilt. Kann der:die Kandidat:in darlegen, warum ein Problem an dieser Stelle besteht, überzeugt dies den:die Korrektor:in deutlich mehr, als wenn einfach das Problem mit einem Satz benannt und in nur zwei Sätzen gelöst wird.

Meist werden gerade im Strafrecht die verschiedenen „Streitstände“ mit ihren verschiedensten Ansichten auswendig gelernt und heruntergebetet. Wie die Literatur und die Rechtsprechung zu den vertretenen Ansichten kommen, wird aber nur selten reproduziert. Sowohl die Literatur als auch die Rechtsprechung entwickeln ihre Meinungen allein aus der Auslegung des Gesetzes.

Beispiel: Das Verhältnis von Mord und Totschlag

Die Literatur vertritt Großteils, dass der Mord gem. § 211 StGB eine Qualifikation zum Totschlag gem. § 212 StGB darstellt. Die Rechtsprechung sieht hingegen Totschlag und Mord als eigenständige Delikte an, die in keinem Verhältnis zueinander stehen. Bringt man dies so in einer Klausur an, hat man das Problem zwar erkannt, aber noch nicht vollständig dargelegt. Es fehlt die Begründung, warum die verschiedenen Varianten vertreten werden. Die Argumentation gewinnt man durch eine Auslegung nach den genannten Methoden.

Nach der grammatischen Auslegung lässt sich anführen, dass § 212 Abs. 1 StGB regelt, dass Totschläger derjenige ist, der einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein. Das spricht für ein eigenständiges Verhältnis, da unterschiedliche Bezeichnungen vorgenommen werden.

Dagegen lässt sich mit der historischen Auslegungsmethode aber anführen, dass die Formulierung „ohne Mörder zu sein“, lediglich ein Überbleibsel aus der überholten Tätertypenlehre des NS-Staates ist. Danach beziehen sich Typologien von Straftäter:innen auf unterschiedliche Merkmale wie z.B. auf begangene Straftaten, die zugrunde liegende Motivation, die Art der Tatausführung. Dies wird aber heutzutage abgelehnt.

Systematisch steht der Mord gem. § 211 StGB vor dem Totschlag gem. § 212 StGB. Bei sonstigen Qualifikationen im StGB steht aber meist die Qualifikation erst nach dem Grundtatbestand (z.B.: §§ 223, 224 StGB, §§ 242, 244 StGB, …). Dies spräche für die Ansicht der Rechtsprechung. Dagegen kann aber wiederum angeführt werden, dass Mord vor dem Totschlag steht, weil es die Straftat mit der absolut höchsten Strafe (lebenslange Freiheitsstrafe) ist und damit der besondere Unwertgehalt des Mordes zum Ausdruck gebracht werden soll.

Mit dem Sinn und Zweck kann bei vorliegendem Problem eher weniger argumentiert werden. Das rührt aber schon daher, dass das Problem selbst eher systematischer Natur ist. Systematisch ließe sich aber noch anbringen, dass der Tatbestand des Totschlags komplett in demjenigen des Mordes enthalten ist, was wiederum typisch für ein Qualifikationsverhältnis ist.

So müssen auch nicht immer alle Auslegungsmethoden zur Anwendung kommen. Es gibt auch durchaus Vorschriften, zu denen keine systematische Beziehung hergestellt werden kann. Gerade in Klausuren kann die historische Auslegung wohl nur in seltenen Fällen angewendet werden, da man schlicht nicht weiß, wann und wieso eine Norm eingeführt wurde. Deshalb muss aber gerade auf die übrigen Methoden zurückgegriffen werden.

Auslegung begründet Wissenschaft

Immer wieder wird von verschiedensten Seiten angebracht, dass die Rechtswissenschaft gar keine Wissenschaft darstelle. Dem kann aber gerade mit der Auslegungsbedürftigkeit entgegengetreten werden. Die Wissenschaft ist das Erforschen von Zusammenhängen, das Erweitern von Wissen sowie die Weitergabe des Erforschten. Indem eine Auslegung der Gesetze vorgenommen wird, werden Zusammenhänge erforscht und Wissen erweitert.

Man kann also guten Gewissens behaupten, dass die Auslegung der Gesetze das zentrale Element der Rechtswissenschaft darstellt und daher von überragender Bedeutung ist.

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Florentine Scheffel
Florentine Scheffel
Rechtsreferendarin in Thüringen.

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