Der Unmittelbarkeitsgrundsatz im grundrechtlichen Kontext

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Wenn man an den Unmittelbarkeitsgrundsatz denkt, kommen einem zuerst amerikanische Justizthriller in den Sinn, in deren Verlauf ein gutaussehender Anwalt der Zeugin ins Wort fällt und „Hearsay!“ ruft, um darauf aufmerksam zu machen, dass die Informationen nur aus zweiter Hand stammen und daher unverwertbar sind. Manchmal werden auch Zeug:innen umgebracht, damit deren Aussagen nicht in den Gerichtssaal gelangen. Wer regelmäßig in einer Gerichtsverhandlung in Deutschland sitzt, wird beides nie erleben. Der Unmittelbarkeitsgrundsatz hat hier eine ganz andere Bedeutung, ist allerdings nicht weniger relevant und spannend.

Der Unmittelbarkeitsgrundsatz ergibt sich aus § 250 Strafprozessordnung (StPO) und wird argumentativ von §§ 251, 261 StPO gestützt. Aus § 250 StPO ergibt sich gerade nicht, dass Informationen aus zweiter Hand, also vom Hörensagen, ausgeschlossen sind, sodass es sich nicht lohnt, Zeug:innen vor der Hauptversammlung verschwinden zu lassen.

Stattdessen stellt § 250 StPO den direkten Zeug:innenbeweis über das Verlesen einer Vernehmung, sodass Zeug:innen in der Hauptverhandlung vernommen werden müssen, außer es treten die in § 251 ff StPO normierten Ausnahmen ein. Eine ergänzende Verlesung des Vernehmungsprotokolls ist als Gedächtnisstütze oder zur Aufklärung eines Widerspruches gemäß § 253 StPO sogar vorgesehen.

Der Unmittelbarkeitsgrundsatz hat keinen Verfassungsrang und ist insbesondere nicht aus Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz (GG) abzuleiten. Zusammen mit der Rechtssicherheit aus Art. 20 Abs. 3 GG garantiert er ein faires Verfahren und sichert das Konfrontationsrecht der Angeklagten. Der Unmittelbarkeitsgrundsatz ist stark in grundrechtlichen Kontext eingebettet, insbesondere durch den Schutz der Freiheitsgrundrechte, die durch das Strafrecht – Haftstrafen! – stark beeinträchtigt werden können. Der Unmittelbarkeitsgrundsatz soll den Angeklagten zum grundrechtlich zugesicherten, fairstmöglichen Prozess verhelfen

Unmittelbarkeitsgrundsatz und Wahrheitsermittlungspflicht

Die Wahrheitsermittlungspflicht aus §§ 155 Abs. 2, 160 Abs. 2, 244 Abs. 2 StPO – auch Amtsermittlungsgrundsatz genannt – besagt, dass das Gericht als Herrin des Hauptverfahrens alles ermitteln muss, was die prozessuale Tat betrifft. Dies betrifft be- und entlastende, rechtserhebliche Tatsachen gleichermaßen, aber nicht jedes Detail – zum Glück, sonst müssten die Leben aller Parteien uferlos auseinandergenommen werden. Man muss sich allerdings fragen, ob man die Wahrheit am besten findet, wenn man sie direkt bei der Quelle sucht.

Ein Auftritt vor Gericht ist für Zeug:innen eine Belastungs- und Stresssituation. Dadurch sinken das Erinnerungsvermögen und die Genauigkeit der Aussagen, weil die Zeug:innen wenig Zeit zum Nachdenken haben. Das kann dazu führen, dass gerade nicht die Wahrheit, sondern eine verzerrte Version wiedergegeben wird. Außerdem findet die erste Vernehmung dann statt, wenn die Erinnerung am frischesten ist. Durch zum Teil lange Wartezeiten bis zur Aussage im Hauptverfahren können hier die Erinnerungen getrübt bis ausgelöscht sein, sodass wichtige Details verloren gehen.

Weil der Unmittelbarkeitsgrundsatz aber eine ergänzende Verlesung einer vorherigen Vernehmung in einem weniger stress- und emotionsbehafteten Raum offenhält, wird hier gerade nicht eine Wahrheitsermittlung ausschließlich durch unmittelbare Zeug:innenbefragung erzwungen.

Es muss zudem keine Tatsache doppelt oder uferlos untersucht werden. Derartige Beschränkungen könnten problematisch sein. Insbesondere muss das Gericht nicht den Aufenthaltsort aller Zeug:innen erforschen und deren Aussagen einholen, wenn es nur im Randbereich die prozessuale Tat betrifft. Die unmittelbare Aussage wird nicht einmal ersetzt, sondern komplett weggelassen. Unangesprochenes wird allerdings auch nicht mittelbar angesprochen oder Teil des Prozesses, sodass der Unmittelbarkeitsgrundsatz gewahrt wird.

Die Unmittelbarkeit durch die Grenzen der Wahrheitsermittlungspflicht praktisch zu beschränken, erscheint, um den Prozess nicht uferlos werden zu lassen, sinnvoll. Die Kollision zwischen den beiden Grundsätzen scheint also nicht besonders groß zu sein.

Unmittelbarkeitsgrundsatz und effektive Rechtspflege

Kurz gesagt ist Rechtspflege effektiv, wenn sie schnell, wirksam und wirtschaftlich ist. Was heißt das im Kontext des Unmitelbarkeitsgrundsatzes? Wenn etwas vorgelesen oder gar in das den Urkunden vorbehaltene, streng geregelte Selbstleseverfahren aus § 249 f Abs. 2 StPO verlagert wird, ist das die schnellere, günstigere und durch die Vermeidung langer Anfahrten umweltfreundlichere Möglichkeit – aber nicht unmittelbar. Prozessökonomie im Sinne der reinen Wirtschaftlichkeit und Unmittelbarkeitsgrundsatz stehen sich in überspitzter Reinform also folglich vollkommen entgegen. In § 253 Abs. 2 StPO wird jedoch ein Kompromiss zugunsten der Zeug:innen gefunden. Unverhältnismäßige Opfer müssen nicht erbracht werden.

Es stellt sich auch die Frage, ob der Unmittelbarkeitsgrundsatz in Einklang mit möglichst „korrekter“ und wirksamer Rechtspflege steht. Durch die direkten Zeug:innenaussagen und -auftritte kann man zu einem Schluss über deren Glaubwürdigkeit sowie die Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen kommen und Nachfragen stellen. Ein Protokoll ist beeinflussbarer. Suggestivfragen und Drohungen, auch im Vorfeld der Verhandlungen, können auf Papier wie im Gerichtssaal ein verzerrtes Bild in die Verhandlung werfen. Zudem sind Aussagen vor Gericht aufgrund von Aufregung und vergangener Zeit ohnehin nie perfekt.

Weil es kein Parallelmodell der reinen Verlesung gibt, kann man nicht sagen, ob Unmittelbarkeitsgrundsatz und effektive Rechtspflege sich gegenseitig eher verhindern oder fördern.

Unmittelbarkeitsgrundsatz und Beschuldigtenrechte

Im Mittelpunkt des Hauptverfahrens stehen die Angeklagten. Daher sollen nun auch deren Rechte und deren Zusammenhang mit dem Unmittelbarkeitsgrundsatz betrachtet werden, zunächst das Konfrontationsrecht.

Gemäß Art. 6 Abs. 3 d EMRK muss im Rahmen von § 261 StPO für ein faires Verfahren eine konfrontative Befragung der Zeug:innen durch die Angeklagten gewährleistet werden, außer dem stehen wichtige Gründe entgegen. So kann die Glaubhaftigkeit der Aussage von Zeug:innen anhand ihrer Körpersprache sowie ihres Auftretens abgeschätzt und durch gezieltes Nachfragen neue Erkenntnisse zugunsten der Angeklagten erlangt werden.

Das Konfrontationsrecht und der Unmittelbarkeitsgrundsatz gehen im Grunde Hand in Hand, denn wenn jemand konfrontiert werden kann, so ist auch die Unmittelbarkeit direkt gegeben. Es ist jedoch keine vollständige Kongruenz gegeben, weil die Verschaffung des Konfrontationsrechts nicht der alleinige Zweck des Unmittelbarkeitsgrundsatzes ist, der besonders auch auf bestmögliche Wahrheitsermittlung abzielt.

Zudem haben die Angeklagten ein Recht auf ein zügiges Verfahren, insbesondere bei Untersuchungshaft, aber auch um die psychischen Belastungen eines laufenden Verfahrens möglichst schnell auszuräumen. Werden Zeug:innen unmittelbar befragt, verlängert sich das Hauptverfahren – und das führt zum späteren Beginn des eigenen Prozesses. Da das Konfrontationsrecht jedoch ein faires Verfahren stark begünstigt, muss das Recht auf ein möglichst schnelles Verfahren hinter diesem und damit auch hinter dem Unmittelbarkeitsgrundsatz in vernünftigem Rahmen zurücktreten.

Unmittelbarkeitsgrundsatz und Opferschutz

Aufgrund eigenen Engagements und Interesses wird hier noch der Opferschutz, oder – sprachlich sensibler – der Verletzten- oder Betroffenenschutz, näher betrachtet. Problematisch ist vor allem eine mögliche Retraumatisierung oder ein Zurückwerfen im Heilungsprozess der Betroffenen von Gewalttaten, insbesondere in Fällen von (sexueller) Gewalt. Gemäß § 247a StPO darf ein Gericht entscheiden, wenn das Opfer zu sehr durch eine Aussage im Gerichtssaal belastet würde, dass im Nebenraum oder von einem anderen Ort aus ausgesagt werden darf, wobei Angeklagte via Liveübertragung das konfrontative Fragerecht ausüben können. Hier kann überlegt werden, ob dieser Schutz weit genug geht.

Problematisch sind auch unsensible, teils absichtlich verunsichernde und unglaubwürdig machende Fragen und Aussagen im Gerichtssaal, die Betroffene – übertragen oder vor Ort – hören müssen. Trauma hat neben psychischen auch körperlichen Auswirkungen, sodass die körperliche Unversehrtheit neben der Entfaltungsfreiheit mit betroffen ist. Es muss gesellschaftlich gefragt, was hier höher wiegt: die Grundrechte der Betroffenen oder unmittelbare Aussagen.

Andererseits schützt die Ausgestaltung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes die Verletzten als Zeug:innen, weil, anders als in Amerika, die Aussage nicht mit ihnen verstirbt.

Unmittelbarkeitsgrundsatz und Prinzipien „unter sich“

Wahrheitsermittlungspflicht und effektive Rechtspflege behindern sich gelegentlich gegenseitig. Beide werden allerdings durch den Unmittelbarkeitsgrundsatz und einander sinnig beschränkt. Dadurch wird nicht uferlos, zu lasch, subjektiv oder mit den falschen Mitteln ermittelt, auch weil in der Hauptverhandlung ohnehin alles „noch einmal aufgerollt“ wird. Außerdem werden die Freiheitsgrundrechte und der faire Prozess geschützt, wenn eine besonders sorgfältige Befragung stattfinden kann. Das muss höher gewichtet werden als ein möglichst geringer Zeit- und Kostenaufwand. Gleichzeitig bietet das eine gute natürliche Begrenzung des Verfahrens, damit sich die Prozesse verschnellern. Daneben ist ein effektiver, also möglichst irrtumsfreier Prozess, der sich auch aus Unmittelbarkeitsgrundsatz und Wahrheitsermittlungspflicht ergibt, trotz längerer Wartezeiten im Sinne der Beschuldigten.

Beschuldigtenrechte und Opferschutz stehen sich naturgemäß entgegen. Insbesondere die These, die Betroffenen schulden es dem Allgemeinwohl, an der Rechtspflege teilzunehmen, ist stark zu hinterfragen, da Betroffene von Straftaten sonst noch schlechter gestellt und doppelt benachteiligt werden. Dies ist nicht vertretbar. Man muss gesellschaftlich abwägen ohne Angeklagte unfair zu benachteiligen und darf die Entscheidung nicht allein dem Gericht überlassen. Auch Betroffene müssen mitreden dürfen, wie eine Hauptverhandlung für sie stemmbar ist. Eine Normierung der Voraussetzung für eine Übertragung in den Gerichtssaal und, aus Laiensicht, eine Zusammenarbeit mit Psychiater:innen und Psycholog:innen, können eine wichtige Rolle spielen.

Die zeitliche und monetäre Kurzhaltung der Prozesse kann sowohl Beschuldigten als auch Verletzten helfen, eine belastende Verhandlung möglichst schnell zu beenden. Beide Parteien können aber dabei auch “unter die Räder” kommen, insbesondere Beschuldigte, wenn die Prozessökonomie zu hoch aufgehängt und die Unmittelbarkeit vernachlässigt wird. Hier wirkt § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO entgegen, weil eine Abtretung der Unmittelbarkeit auch in die Hände der Beschuldigten gelegt wird. § 251 Abs. 1 Nr. 2-4 StPO legt zudem Fälle fest, bei deren Eintreten ein Verlesen entweder sehr ökonomisch oder zwingend ist, sodass hier eine Begrenzung beider Prinzipien vorliegt.

Fazit

Beschuldigtenrechte, Opferschutz, effektive Rechtspflege und Wahrheitsermittlungspflicht – dass all das in einen Aufsatz passt, liegt an der Verknüpfung mit dem Unmittelbarkeitsgrundsatz. Das zeigt die Aktualität des Themas des DJT Bonn im Jahr 2022 – und warum eine Abschaffung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes extrem problematisch ist, weil so viele Aspekte des Strafprozessrechts berührt werden.

Es gibt dennoch Reformbedarf. Verletzte werden noch nicht genug vor einem patriarchischen, diskriminierenden und manchmal unbarmherzigen System geschützt. In weiterer, interdisziplinärer Forschungsarbeit ist zu untersuchen, ob es empfehlenswert sein kann, beispielsweise allen Betroffenen von schweren persönlichen Delikten eine audiovisuelle Übertragung anzubieten. Zu überlegen ist, ob eine Verlesung einer vorherigen Aussage in Kombination mit einem psychiatrischen Gutachten zur Glaubwürdigkeit ausreicht. Neuere ökonomische und schützende Methoden wie das Abspielen einer Video- oder Tonaufnahme werden bisher auch noch nicht berücksichtigt.

Das System ist überladen mit Ausnahmen und Gegenausnahmen – und das verwirrt. Reformen könnten das verschlimmern, tasten aber den Unmittelbarkeitsgrundsatz im Kern nicht an. Vor Komplexität im Prozessrecht sollten Jurist:innen sich jedoch nicht fürchten. Das muss eine gute Regelung für eine neutrale, irrtumsfreie Justiz wert sein!

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