Gerechtigkeit und Reformbedarf im Strafrecht – Interview mit Prof. Dr. Thomas Weigend

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Ziel des Strafrechtes ist es, den Rechtsfrieden innerhalb der Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Dennoch weicht die deutsche Strafrechtsprechung nicht selten vom Rechtsempfinden der Öffentlichkeit ab. In ihrem im März dieses Jahres im Dumont-Verlag erschienenen Buch “Strafsachen” widmen sich die Strafrechtsprofessor:innen Elisa Hoven und Thomas Weigend achtzehn Fällen aus der Bandbreite des deutschen Strafrechts.

Sie greifen aktuelle Themen wie auch Dauerbrenner aus dem gerichtlichen Entscheidungskanon auf und problematisieren anhand dieser Urteile grundlegende Fragen unseres Rechtssystems. So geht es beispielsweise um die Grenzen der erlaubten Notwehr, die Problematik von Täter:innen im Kindesalter oder um die Frage, ob die Wiederaufnahme eines abgeschlossenen Verfahrens auch zu Ungunsten der freigesprochenen Person möglich sein soll.

Autorin und Autor erklären in verständlicher Weise die Hintergründe strafrechtlicher Entscheidungen und Reformen sowie Eigenheiten des deutschen Strafrechts. Dabei beziehen sie klar und fundiert Stellung und schlagen sich mal auf die Seite der Gerichte, mal auf die von Kritiker:innen der Entscheidungen. Prof. Dr. Thomas Weigend war dreißig Jahre lang Universitätsprofessor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität zu Köln. Mit ihm haben wir über Hintergründe und Probleme des deutschen Strafrechts gesprochen.

Interview mit Prof. Weigend

Herr Professor Weigend, vielen Dank für Ihre Zeit. Was reizt Sie persönlich an der Beschäftigung mit dem Strafrecht? Wie sind Sie zu diesem Rechtsgebiet gekommen?

Prof. Dr. Weigend: Am Strafrecht fand ich das Interessante, einmal, dass es von Menschen und den Abgründen des menschlichen Charakters handelt, und zum anderen, dass es um Grundregeln des sozialen Zusammenlebens geht, die für uns alle relevant sind. Und dazu gekommen bin ich schlicht über die Vorlesungen. In Freiburg habe ich auch Seminare zu Strafrecht und Kriminologie besucht und so ist der Kontakt entstanden.

Gerechtigkeit ist ein grundlegendes Thema Ihres Buches. Was ist Gerechtigkeit denn für Sie?

Prof. Dr. Weigend: Hier geht es um ausgleichende Gerechtigkeit. Das verstehe ich im Kontext des Strafrechts so, dass derjenige, der eine Straftat begeht, sich damit einen unerlaubten Vorteil verschafft: sich nämlich eine Freiheit nimmt, die ihm nicht zusteht, und gleichzeitig einen anderen Menschen oder die Gemeinschaft schädigt. Durch die gerechte Strafe soll ihm dieser Vorteil dadurch entzogen werden, dass ihm ein proportionales Übel auferlegt wird. Damit wird also gewissermaßen die Waage der Gerechtigkeit wieder ins Gleichgewicht gebracht. Das Problem ist nur, dass sich der Vorteil, den jemand aus einer unerlaubten Tat zieht, und der Nachteil durch die staatliche Strafe schlecht vergleichen lassen. Eine Proportionalität zwischen Tat und Strafe herzustellen, darin liegt das spezielle Problem der Strafgerechtigkeit.

Was hat Sie dazu bewogen, „Strafsachen“ zu schreiben? 

Prof. Dr. Weigend: Der Anlass dafür war die Wahrnehmung, dass in den Medien und auch in Meinungsumfragen immer wieder Unzufriedenheit und sogar Empörung über einzelne gerichtliche Entscheidungen und häufig auch über die Strafzumessung geäußert werden. Der Arbeitstitel des Buches war „Das kann doch wohl nicht wahr sein!“ Wir wollten in verständlicher Weise erklären, wie und auf welcher Grundlage die Gerichte ihre Entscheidungen in Strafsachen treffen und welche kriminalpolitischen Erwägungen damit verbunden sind. Unsere Zielgruppe sind nicht die strafrechtlichen Fachkollegen, sondern Leser und Leserinnen, die sich für Strafrecht interessieren. Das können also durchaus auch Jurastudierende sein.

In Ihrem Buch wird auch angesprochen, dass medial häufig Falschinformationen zu strafrechtlichen Themen verbreitet werden. Was kann hier getan werden?

Prof. Dr. Weigend: Es liegt nahe, dass man die Medien dafür kritisiert, wie sie strafrechtliche Fragen darstellen und vereinfachen. Aber man muss sehen, dass die Medien die Aufmerksamkeit ihrer Leser und Leserinnen gewinnen wollen. Das tut man eben nicht dadurch, dass man Exzerpte aus Strafrechtsbüchern abdruckt, sondern dadurch, dass man Emotionen anspricht. Solange man eine freie Medienlandschaft haben möchte, kann man das auch nicht ändern. Ein anderes Problem ist die Frage, ob man etwas gegen Fake News, also gezielte Falschmeldungen, machen kann. Ich bin da etwas skeptisch. Die Grenze für die Freiheit der Medien liegt aber bei der persönlichen Diffamierung von Menschen; und Gesetzgeber und Rechtsprechung bemühen sich zurzeit darum, das zu verhindern. Man kann in dieser Situation im Grunde nur versuchen, differenziertere Darstellungen auf den Markt zu bringen. Dieses Ziel verfolgen wir mit dem Buch.

Welcher Reform bzw. Reformen, denken Sie, bedarf das Strafrecht am dringendsten?

Prof. Dr. Weigend: Die Frage ist gar nicht so einfach, denn grundsätzlich ist das deutsche Strafrecht, gerade im Vergleich mit ausländischen Rechtsordnungen, im Großen und Ganzen ausgewogen und differenziert. Reformbedarf besteht natürlich immer dort, wo neue Phänomene auftauchen, also zum Beispiel Verbreitung von Hass im Internet oder auch die illegalen Autorennen, die vor ein paar Jahren aufgekommen sind. In manchen Bereichen hat sich auch der gesellschaftliche Dialog verändert. Ein klassisches Beispiel sind nichtkörperliche Angriffe auf die Privatsphäre oder auf die sexuelle Autonomie, Stichwort Catcalling. In vielen dieser Bereiche hat der Gesetzgeber auch schon reagiert, zum Beispiel beim Tatbestand des Stalkings. Man kann über manche Details sicher anderer Meinung sein, aber es besteht hier keine besonders klaffende Lücke im Strafrechtsschutz. Es gibt jedoch andere Bereiche: So sind die Tötungsdelikte nach wie vor eine kriminalpolitische Wüste, wo der Gesetzgeber tätig werden sollte.

Meinen Sie, dass es eine stärkere Abstufung beim Strafrahmen geben sollte? Im Buch bemängeln Sie ja, dass bei Mord die Strafe immer auf lebenslang festgelegt ist.

Prof. Dr. Weigend: Es ist im Grunde unstreitig, dass § 211 StGB in der Form, wie er im Gesetz steht, schlecht ist, vor allem die Verbindung von kasuistischen – und teilweise auch ziemlich unbestimmten – Tatbestandsvoraussetzungen und einer sehr starren Sanktionsdrohung. Dann stellt sich die Frage, wer berufen ist, dieses Gesetz zu ändern und den Fehler zu korrigieren. Eigentlich ist es klar, dass das in unserem demokratischen System Sache des Gesetzgebers ist. Aber das Feld ist politisch vermint und es gibt viele Menschen in der Politik, die sagen, wir wollen uns nicht von der BILD-Zeitung sagen lassen, „Herr X will Mörder laufen lassen“. Deswegen passiert da nichts, obwohl es schon etliche Reformvorschläge gab. Der BGH hat im Onkel-Fall 1981 sozusagen qua übergesetzlichem Notstand gesagt, wenn sonst niemand dieses Problem angeht, dann machen wir das eben. Man kann dafür sicher Verständnis haben. Aber es gibt zwei Probleme bei solchen freischwebenden Strafmilderungen. Zum einen – und das hat sich auch in der weiteren Rechtsprechung gezeigt – führen sie zu willkürlich anmutenden Folgeentscheidungen. Zum anderen nimmt diese Art der Rechtsprechung den Druck vom Gesetzgeber weg.

Gibt es im deutschen Strafrecht neben Geld- und Freiheitsstrafe – außerhalb des Jugendstrafrechts – noch weitere Sanktionsmöglichkeiten?

Prof. Dr. Weigend: In anderen Rechtsordnungen gibt es umfassende Konzepte von Sanktionen ohne Freiheitsentzug, die z.B. Arbeitsleistungen und soziales Training umfassen. In Deutschland ist das nur im Jugendstrafrecht verwirklicht. Solche Auflagen laufen dann praktischerweise unter dem Erziehungsgedanken. Man hat hier traditionell eine große Scheu davor, bei mental gesunden Erwachsenen irgendwelche Behandlungsmaßnahmen oder Arbeitsleistungen zwangsweise aufzuerlegen. Denn in Art. 12 des Grundgesetzes steht ja ausdrücklich, dass Zwangsarbeit ohne gerichtlich angeordnete Freiheitsentziehung verboten ist. Wenn man beispielsweise gemeinnützige Arbeit als echte Strafe verstehen und ins Strafgesetzbuch aufnehmen wollte, müsste man wohl das Grundgesetz ändern. Das wäre ein großer Schritt. Aktuell gibt es z.B. Arbeitsauflagen nur als „freiwillige“ Alternativen gegenüber Freiheitsstrafen (bei der Strafaussetzung zur Bewährung) und uneinbringlichen Geldstrafen. Ich persönlich fände es ganz gut, wenn man diese Möglichkeiten nicht nur als Ersatz, sondern auch als primäre Strafe hätte.

Das Strafrecht muss sich häufig Kompromissen bedienen. Wie kann es unterschiedlichen Wertvorstellungen in unserer pluralistischen Gesellschaft gerecht werden?

Prof. Dr. Weigend: Das Strafrecht soll eigentlich nur die äußersten Grenzen des nicht mehr Tolerierbaren aufzeigen. Insofern sollte man meinen, dass auch in einer pluralistischen Gesellschaft die Regeln des Strafrechts im Prinzip konsentiert sind. Deswegen fallen mir auch wenige Situationen oder Fälle ein, in denen strafrechtliche Regelungen in Konflikt mit ethischen oder religiösen Vorstellungen von Minderheiten kommen. Was vor Jahren mal heftig diskutiert wurde, ist die Frage der Beschneidung von Jungen aus religiösen Gründen. Das hat der Gesetzgeber aus nachvollziehbaren Gründen zugunsten der Religionsfreiheit entschieden. Andererseits gibt es Dinge wie Zwangsheirat oder auch Genitalverstümmelung bei Frauen, wo man sich einig ist, dass auch kulturelle Bräuche von Minderheiten nicht dazu führen können, dass man so gravierende Eingriffe in den Körper und die Willensfreiheit zulässt.

Im Buch wurde auch das Beispiel angesprochen, dass Tötungen aus Eifersucht früher eher nicht unter die niedrigen Beweggründe des Mordtatbestands fielen, sich das heute aber ins Gegenteil kehrt, weil eine Art patriarchales Besitzdenken dahintersteht. Was sind Ihre Gedanken zu dieser Entwicklung?

Prof. Dr. Weigend: In Sachen Mann-Frau-Verhältnis hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten viel getan, Stichwort Vergewaltigung in der Ehe, die noch zu meinen Studienzeiten nicht § 177 StGB erfasst war. Da hat sich einiges bewegt: Vergewaltigung des Ehepartners ist jetzt natürlich eine Straftat, und auch bei der Definition der Vergewaltigung und sexuellen Nötigung werden heute andere Maßstäbe angelegt. In der Gesellschaft gilt heute manches, was man früher einfach ignoriert hat, als Verletzung der rechtlich geschützten Interessen von Frauen. Das nimmt das Strafrecht mehr oder weniger schnell auf. Im Bereich der Sexualdelikte und des Schutzes von Kindern hat sich in den letzten Jahren viel getan.

Meinen Sie das Strafrecht zeigt heutzutage mehr Problembewusstsein und hat sich generell in eine positive Richtung entwickelt?

Prof. Dr. Weigend: Ja, das kann man sicher sagen. Und manche Dinge sind auch weggefallen, zum Beispiel die Strafbarkeit von Homosexualität, die zu meiner Studienzeit noch bestanden hat. Auch Ehebruch war eine Straftat, solche Dinge sind durch den gesellschaftlichen Wandel aus dem Strafrecht herausgefallen. Insofern ist das Strafrecht immer auch ein Abbild der Gesellschaft; deren veränderte Einstellungen übertragen sich manchmal schneller und manchmal langsamer auf das Recht. Jetzt wird ja beispielsweise darüber diskutiert, ob es noch zeitgemäß ist, § 166 StGB, die Beschimpfung von Religionen, im Gesetz zu haben.

Wie sieht es mit Debatten zur Reformierung des Allgemeinen Teils des Strafrechts aus?

Prof. Dr. Weigend: Ein Thema ist hier die Abgrenzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit. Wenn man einen Menschen, der unbefangen § 15 StGB liest, fragt, was ist Vorsatz, dann sagt der: Vorsatz ist, wenn man absichtlich einen anderen umbringt. Es ist nicht einfach, den Leuten dann zu erklären, dass es noch andere Formen von Vorsatz gibt, wie den bedingten Vorsatz, der dieselbe Folge haben soll wie absichtliches Verhalten. Ich selbst vertrete schon seit langem, dass man eine Zwischenstufe zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit einführen sollte.

Haben Sie Hoffnung, dass das in die Tat umgesetzt wird?

Prof. Dr. Weigend: Die Hoffnung ist nicht so groß. Wir haben zusammen mit Frau Hoven einen Kriminalpolitischen Kreis gegründet, aus 35 Professorinnen und Professoren aus Deutschland, die sich für solche kriminalpolitischen Fragen interessieren. Es gibt dabei eine Untergruppe, die ziemlich intensiv an Neuformulierungen für den Allgemeinen Teil arbeitet. Vorsatz ist ein Thema, da können wir uns untereinander allerdings nicht einigen (lacht). Wir haben aber beispielsweise eine alternative, ausführlichere Formulierung für Notwehr und Notwehrüberschreitung entworfen, die wir jetzt zur Diskussion stellen. Im Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuchs steht ja relativ wenig, und das meiste, was Sie als Studentin dazu gelernt haben, ist daher entsprechend gesetzesfern. Man könnte versuchen, das, was sich seit der letzten Reform von 1975 in der Rechtsprechung und in der Wissenschaft entwickelt hat, mal auszuformulieren und ins Gesetz zu schreiben.

Das Recht sollte schließlich auch vorhersehbar sein.

Prof. Dr. Weigend: Genau, der Bestimmtheitsgrundsatz würde für eine solche Ausformulierung sprechen. Natürlich, wenn Sie dann mit Praktikern reden – auch über den Mordparagraphen – die sagen Ihnen, oh Gott, jetzt fangt nicht an, das umzuformulieren. Wir haben seit achtzig Jahren die Definitionen von Heimtücke, niedrigen Beweggründen und so weiter. Wir können damit arbeiten, wenn ihr jetzt irgendetwas Neues bringt, das macht uns nur wieder Sorgen (lacht).

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Buch: Strafsachen

Das Strafrecht polarisiert, fasziniert und empört wie kaum ein anderes Thema. Immer wieder gibt es Straftaten, die uns verunsichern, da sie unsere grundlegenden Regeln und Werte infrage stellen. Diese Verunsicherung wächst, wenn es zum Prozess kommt: Die Urteile der Gerichte sind für viele Bürger und Bürgerinnen häufig nicht nachvollziehbar. Eine Zahl, die dies eindrucksvoll belegt: Einer aktuellen Umfrage zufolge halten fast sechzig Prozent der Bevölkerung die Verurteilungen durch deutsche Strafgerichte für »zu milde«.

Elisa Hoven und Thomas Weigend greifen in ihrem Buch spektakuläre und prominente Fälle auf, die verwundert, besorgt oder empört haben. Anhand des »Ku’ Damm-Raser-Falls« diskutieren sie, ob Raser Mörder sind. Der Fall der Gruppenvergewaltigung von Mülheim wiederum stellt die Gerichte sowie Leser und Leserinnen vor die Frage, ob und wie ein zwölfjähriger Vergewaltiger bestraft werden sollte. Und im Kapitel über den »Fall Kristina Hänel« beleuchten die Autoren kritisch das Gesetz, das Informationen über Schwangerschaftsabbrüche verbot.

Stets analysieren sie, warum die Gerichte so und nicht anders geurteilt haben, und fragen, ob das juristisch wie ethisch vertretbar ist. Dabei zeigen sie die Grenzen und Bedingungen unseres Rechtssystems auf.


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Helen Arling
Helen Arling
Doktorandin mit Schwerpunkt Völkerrecht, Kletterin, Katzenmensch.

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