“Gucken Sie nach rechts und links. In einem Jahr werden die Leute auf den Plätzen neben Ihnen wohl nicht mehr da sein.“ Dieser Satz, dem ich selbst noch zu Anfang meiner ersten Arbeitsgemeinschaften lauschen durfte, klingt wenig motivierend und noch weniger sympathisch. Nun kann man sagen und hoffen, dass sich seit dem eigenen Studienbeginn doch Einiges getan haben müsste. Wenn jedoch noch letztes Jahr, eine Professorin mit Ehrenwürden den integrierten LL.B. in der FAZ als „Loser-Abschluss“ betitelt oder erst im Mai ein Professor auf Twitter die Durchfallquoten im Examen mit schlechten Abiturnoten erklären will, sollte man sich nochmals ernsthaft die Frage stellen: Hat sich denn eigentlich nun etwas getan?
Von unten nach oben
Es stimmt, dass eine neue geistige Generation sich bemerkbar macht. Eine, die versucht, solchen Aussagen die Stirn zu bieten. Eine, die versucht, ihrem Frust über ungerechte Behandlung, Gehör zu verschaffen (z.B. bzgl. des Referendariats hier auf JURios). Außerdem ist als Kehrseite dieses Phänomens hervorzuheben, dass diesen Stimmen auch eine Plattform in Form von Blogs oder Zeitschriften geboten wird. Dennoch ist die Frage nach der Messbarkeit einer Veränderung in der juristischen Ausbildung jenseits von legislativen oder gerichtlichen Entscheidungen schwierig zu beantworten. Die Unzufriedenheit lässt sich nun jedoch klar beziffern. Die aktuelle iur.reform-Studie, als größte ihrer Art in der Geschichte der BRD mit insgesamt 11.842 Teilnehmenden, kommt zu dem Ergebnis, dass 52 % der Studierenden, Referendar:innen, praktizierenden Jurist:innen, Professor:innen sowie Mitarbeitenden der Prüfungsämter nämlich genau das sind: unzufrieden. Deutlich ist daneben auch der Befund eines Anonymitätsgefälles auszumachen.
Dieser fügt sich wunderbar, in das Bild ein, das #IchBinHannah versucht hat, für die Causa des akademischen Mittelbaus zu zeichnen. Die Personen, die strukturell noch bangen müssen, befinden sich in einer Situation von beruflicher Unsicherheit und besonderer Abhängigkeit: sowohl in der Ausbildung wie im Referendariat bei der Bewertung durch die Stationsleitenden als auch im wissenschaftlichen Betrieb im Verhältnis zum:r Betreuer:in. Damit sind die intersektionalen Probleme, die sich stellen, wenn man sich einem rassistischen Staatsanwalt in der Strafstation wie im Falle von Thomas Seitz gegenübersieht, noch nicht einmal ausdrücklich angesprochen.
Außerdem lässt sich der Punkt des Prekariats des sich von einer befristeten Stelle zur nächsten hangelnden Forschungsnachwuchses gut übertragen, richtet man nach mehreren Jahren Studium den Blick auf den Bruttolohn, den man im Referendariat erhält. Man hat also während des laufenden Qualifikationsprozesses neben einer finanziellen Sorge ständig die Angst im Nacken, bei Kritik einen unmittelbaren Bewertungsnachteil zu erleiden. Mit dem eigenen Namen in die öffentliche Debatte zu gehen, erfordert somit besondere Courage.
Von oben nach unten
Im Umkehrschluss dazu müsste die öffentliche Debatte also vor allen Dingen in eine Richtung funktionieren: von oben nach unten. Die Verbeamtung erfolgt auf Lebenszeit. Man profitiert zudem von einer Stimmkraft, welche die eines Studierenden leicht übertrifft. Insbesondere im akademischen Betrieb könnte man außerdem meinen, dass – wer die Stufen der okzidentalen Bildungsleiter erfolgreich hin zum ordentlichen Lehrstuhl erklommen hat –, die kognitiven Mittel besitzt und bequemer sitzt, um Missstände zu erkennen und sich für deren Abschaffung einzusetzen (so tun dies bspw. Prof. Griebel/Prof. Schimmel). Ähnliches dürfte jedenfalls nach der mit dem Examen als entsprechender Eintrittskarte verbundenen Logik der grundgesetzlichen Bestenauslese in der Justiz angenommen werden.
Das stimmt nun leider so nicht ganz. Selbst im Rahmen der gutachterlichen Gespräche zu einer Förderung meiner Promotion bin ich noch auf eine Person gestoßen, die mir nicht nur wenig ernsthaft zugehört, sondern darüber hinaus noch offen mein Betreuungsverhältnis angegriffen hat. Ich wurde ernsthaft gefragt, was ich dort wolle und wieso ich nicht zu dem deutlich qualifizierteren Ehemann wechseln würde. Bei weiblich gelesenen Professorinnen frage ich mich erst recht, wie es zu so etwas kommen kann. Ich kann mir nur vorstellen, wie frühere Promovierende unter einem noch stärkeren männlichen Platzhirschjoch von alltäglicher Misogynie gelitten haben müssen. Aber auch Berichte wie das Einschlafen von Prüfenden während der mündlichen Prüfung im zweiten Examen sind keine Seltenheit. Die absurderweise als gar nicht mal so niedrigschwellige daherkommende Folgefrage: Ist es so schwer, nett zu sein?
Unten und oben
Selbstverständlich wirkt eine Abgrenzung nach unten à la „Schau, wohin ich es hingeschafft habe und wo du stehst!“ performativ – vor allem für einen selbst. Der „Circle of Lies“ eines falschen Meritismus kann jedoch nur von oben und unten erfolgreich durchbrochen werden. Dabei ist die juristische Ausbildung nicht als Martyrium misszuverstehen – allein schon deswegen, weil der Leidensweg nur für ganze Wenige oberhalb der heiligen 9 Punkte zur Auferstehung führt. (So erhielten 2020 lediglich ca. 15 % im Staatsteil ein „vollbefriedigend“ im ersten Examen). Der Preis, der in psychologischer Hinsicht gezahlt wird, findet sich in den Statistiken hingegen nicht. (Dafür wünschen sich 84,6 % der 6.686 sich in der Ausbildung Befindlichen, die an der iur.reform-Studie teilgenommen haben, explizit, diese „emotional zu entlasten“). Besonders grotesk wirkt die christliche Analogie vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte um die Streichung der Ruhetage zwischen den Prüfungen (hier geht es zur Petition).
Das Bild vom Kreis hat aber noch eine weitere Stoßrichtung. Denn wer einmal unten angefangen hat, kann durchaus einmal nach oben gelangen. Der Marker struktureller Benachteiligung hat neben der Angst davor, unmittelbar Karriere-Nachteile zu erleiden, noch eine zweite Seite: Das Risiko, bei einer guten Note, selbst in den Kreislauf zu geraten und zu denken, all dies sei bloßer Ausdruck der eigenen verdienten Leistung – gerade in Abgrenzung zu den „Losern“, die ihrem Frust nun Luft machen müssen. Man belügt sich schließlich selbst. Diesen Kreislauf gilt es, zu durchbrechen, um das Narrativ von „Nur-die-Harten-kommen-in-den-Garten“ (so kritisch erneut Prof. Dr. Schimmel) oder auch „Wenn ich es durchmachen musste, dann du auch“ stetig zu dekonstruieren. Es klingt einfach sympathischer zu sagen: Hey, wir schaffen das zusammen!