Das Göttinger Kussverbot und der “Kußprozess”

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„Geben Sie Kussfreiheit!“, mit diesen Worten rechtfertigte der Göttinger Jurastudent Georg Graf Henckel von Donnersmarck seinen nächtlichen Ausflug zum Gänseliesel im Jahre 1926, dem selbsterklärten Wahrzeichen der Stadt Göttingen. Doch warum rechtfertigte sich der junge Doktorand so pathetisch vor dem Amtsgericht in Göttingen und später dem Kammergericht in Berlin für den Kuss an einer Bronzestatue inmitten eines Brunnens?

Das Gänseliesel

Begonnen hat alles mit einer Ausschreibung für einen neuen Marktbrunnen vor dem Rathaus im Zentrum der Universitätsstadt Göttingen. Nachdem dutzende Entwürfe bei der Stadtverwaltung eingegangen sind und gleichwohl der Entwurf des „Gänsemädchens“ es lediglich auf den mit 400 Mark prämierten zweiten Platz geschafft hat, entbrannte unter den Bewohnerinnen und Bewohnern der Stadt Göttingen eine hitzige Diskussion über das Ergebnis der Ausschreibung. Diese Diskussion wurde insbesondere über Leserbriefe in den lokalen Zeitungen ausgetragen, was nicht nur für die damalige Zeit der übliche Weg des Meinungsaustausches war.

Nachdem bereits diverse Denkmäler für die akademischen Größen der Stadt errichtet wurden, wäre es nun an der Zeit, ein Denkmal mit Identifikationspotential für die „einfachen Bürger“ auszuwählen. Der Entwurf des Gänsemädchens symbolisierte eine damals typische „Mädchenarbeit“, die für die Region um Göttingen zwar typisch, jedoch keinesfalls einzigartig war. Die Hauptkritikpunkte bezogen sich vornehmlich auf die Größe der Figur und den ansonsten mit Fürsten und Königen in Verbindung gebrachten Baldachin.

So beinhaltet der gesamte Entwurf neben der Figur einer Magd lediglich drei kleinere Gänse, welche laut Jury vor dem „wuchtigen“ und „ernsten“ Rathaus der Stadt untergehen würden. Gewinner des Wettbewerbs war das Modell „Im Geist des Alten“, welches wohl deutlich herrschaftlicher gewirkt haben soll.

Nach der langen Diskussion konnten sich die Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt aber mit Hilfe ihres finanziellen Engagements durchsetzen und so konnte das Gänseliesel ab 1901 auf dem Marktplatz bestaunt werden. Auch möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass sich Göttingen zwar im geografischen “Nichts” der Republik befindet, man sich aber zumindest sprachlich eher dem Norden zugehörig fühlt. Daher sagt man auch das Gänseliesel und nicht wie es wohl weiter südlich üblicher wäre, die Gänseliesel.

Der Göttinger „Kußprozeß“

Nun will ich aber auch endlich zu den rechtlichen Bezugspunkten dieses Brunnens kommen. Dieser sorgte nämlich auch nach seiner Aufstellung für einigen Wirbel.

Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich unter den Göttinger Studierenden die Tradition, nach einer feuchtfröhlichen Immatrikulationsfeier in den frühen Morgenstunden auf den Brunnen zu klettern und der Figur einen lieb gemeinten Kuss zu geben. Ansonsten könne es mit dem akademischen Erfolg ohnehin nichts werden. Der Stadtverwaltung und weiten Teilen der Bevölkerung gefiel diese Prozedur allerdings überhaupt nicht und so versuchten sie, mithilfe der Polizei in zwei Anläufen einzelne Studenten wegen „groben Unfugs“ in die Verantwortung zu nehmen. Definiert wurde der „grobe Unfug“ als vorsätzliche Handlung, die in erheblicher Weise gegen die allgemeine Verkehrssitte verstößt und geeignet ist, die auf dieser Sitte beruhende Ordnung zu stören. Der Göttinger Student Werner Kuehn wollte diese Strafverfügung aber nicht auf sich beruhen lassen, sodass er – wohl auch angestachelt durch seine Kommilitonen – gerichtlich dagegen vorging.

Zunächst ging das Amtsgericht Göttingen auch auf Kuehns Begründung ein, dass diese Praxis studentische Sitte sei und daher nicht geeignet sei, die öffentliche Ordnung zu stören. Es sei kein grober Unfug, sondern nach Richter Dr. Andrae lediglich „harmloser Studentenulk“. Das für die Studierendenschaft doch sehr positiv ausgefallene Urteil sprach sich schnell herum und so wurde die Konfrontation mit dem Schutzmann auch zukünftig gerne in Kauf genommen.

Grober Unfung im Gesetz

Den Tatbestand des „groben Unfugs“ nach § 360 Abs. 1 Nr. 11 StGB aF hat es noch bis zur Strafrechtsreform 1969 in der Bundesrepublik gegeben. Heutzutage ist die vergleichbare „grob ungehörige Handlung“ noch in abgeschwächter Form in § 118 Abs. 1 OWiG als Auffangnorm zu finden.

Um dem Treiben doch noch Einhalt gebieten zu können, verbot eine am 31. März 1926 erlassene Polizeiverordnung das Erklettern des Sockels und damit auch mittelbar das Küssen des Gänseliesels unter einer Maximalstrafe von 150 Mark. Dass solch ein Verbot eher eine förderliche als eine vermindernde Wirkung hat, versteht sich von selbst.

Höhepunkt dieser Entwicklung war dann der Prozess gegen den finanziell gut abgesicherten Jurastudenten Georg Graf Henckel von Donnersmarck, der es ganz studienfachtypisch nicht auf sich sitzen lassen wollte, 10 Reichsmark Strafe zahlen zu müssen, nachdem er in flagranti am Brunnen erwischt wurde. In einem flammenden Plädoyer forderte von Donnersmarck, aus dem Gänseliesel kein „Dornröschen“ zu machen und den „Bann von den bronzenen Lippen zu lösen“. Auch der bereits erwähnte Satz „Geben Sie Kussfreiheit!“ schaffte es in die Geschichtsbücher der Stadt.

Ferner hat von Donnersmarck in den Vorwochen zur Verhandlung ein Gutachten in Auftrag geben lassen, welches die Rechtmäßigkeit der Polizeiverordnung anzweifeln ließ. Dieses Gutachten wurde auch in den lokalen Zeitungen veröffentlicht. Seine Ansicht stützte der Doktorand auf die Behauptung, dass durch die städtische Eigentümerstellung an dem Brunnen, überhaupt keine Öffentlichkeit vorliegen würde und da es sich ja um ein „privates Gut“ handele, überschreite die Polizei ihre Befugnisse mit der Verordnung und den Maßnahmen.

Trotz dieses wohl eindrucksvollen Auftritts konnte sich Henckel von Donnersmarck nicht vor Gericht durchsetzen und verlor auch in zweiter Instanz vor dem Kammergericht Berlin den Prozess. Auch das vorangegangene Urteil wurde von dem Göttinger Richter Dr. Andrae gefällt, der sich in diesem Fall nicht auf seine ursprünglichen Argumente berufen wollte und die Verordnung für rechtmäßig erklärte.

Zu dieser Zeit verhandelte man in Preußen auch über ein neues Polizeiverwaltungsgesetz, welches mehr Rechtstaatlichkeit und weniger Willkür durch Generalklauseln erwirken sollte. Diese vermeintlich banale Serie von Urteilen stand demzufolge auch in seinem rechtlichen Kontext für einen sich wandelnden Zeitgeist, wenngleich dieses neue Gesetz erst 1931 erlassen werden sollte.

Man könnte meinen, dass nach diesem Exempel und den angedrohten drakonischen Strafen endlich wieder Ruhe in die kleine Universitätsstadt eingekehrt ist. Hingegen hat sich auch dieses Urteil schnell unter den Göttinger Studierenden herumgesprochen und so entwickelte sich das städtische Verbot, hin zu einem „To-do“ in nächtlicher Feierlaune mit der Maßgabe, nicht erwischt zu werden. Nachdem die Stadtoberen gemerkt hatten, dass sich die Verordnung und das harte Vorgehen eher als Bärendienst erwiesen hatte, wurde mit den Jahren die Umsetzung der Polizeiverordnung immer seltener.

Die Tradition im Wandel der Zeit

Mit den immer weiter steigenden Zahlen von Studierenden wurde über die Jahre aus dem einstigen Immatrikulationsbrauch eine Tradition für frisch gebackenen Doktorandinnen und Doktoranten. Am 7. Juni 2001, zum 100-jährigen Jubiläum, wurde die damalige Verordnung dann in einer feierlichen Zeremonie schließlich aufgehoben. Da diese aber schon seit Jahrzehnten keine Anwendung mehr fand und es gewiss auch nicht mehr so spektakuläre Gerichtsverfahren gab, hatte diese Aufhebung eher einen symbolischen Charakter als eine echte Reform im Sinne der Kussfreiheit. Auch die Göttinger Bürgerinnen und Bürger haben sich längst mit dem Kuss an „ihrem“ Gänseliesel abgefunden.

Mittlerweile ist es also guter Brauch, nach einer bestandenen Promotion zu Tageszeiten von Kolleginnen, Freunden und Familie in einem bunt geschmückten Bollerwagen von der Fakultät durch die Stadt zum Marktplatz kutschiert zu werden. Dort angekommen versucht man beim Erklimmen des Brunnens keine nassen Füße zu bekommen und gibt dann dem Gänseliesel den langersehnten Kuss. Zum Dank hinterlässt man einen kleinen Blumenstrauß im Baldachin. Diese Prozedur ist universitätsweit etabliert und so bestätigt sich auch die von Graf Henckel von Donnersmarck erstellte Prognose, der vor Gericht noch erklärte: „Die gesamte Alma mater Georgia Augusta steht einmütig auf dem Standpunkt der Volksmeinung, dass Küssen keine Sünd‘ ist“ – und seit 2001 auch nicht mehr rechtswidrig.

Diese gesamte Feier ist im Übrigen für das Landessozialgericht Niedersachsen und Bremen keine Betriebsfeier für Angestellte (LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 02.07.2020 – L 6 U 30/18). Man muss infolgedessen also besonders aufmerksam sein, da Unfälle bei dieser Feier nicht von der gesetzlichen Unfallversicherung gedeckt sind. Das sollte man vielleicht bei der Intensität der Feierlichkeiten berücksichtigen, wenn man an einem beteiligten Lehrstuhl oder Institut angestellt ist.

Leider wurde in den letzten Jahren das Gänseliesel aber nicht nur mit Blumen geschmückt. Steigender Vandalismus seit dem Ende der 70er Jahre sorgte dafür, dass das Original Gänseliesel seit 1990 nicht mehr auf dem Marktplatz steht, sondern mittlerweile einen Platz im städtischen Museum gefunden hat. Seither schmückt eine Replik den Brunnen vor dem Rathaus. Übrigens hat es das Gänseliesel auch außerhalb der Stadtgrenzen zu Bekanntheit geschafft und ziert seit 1989 einen nachgebildeten Marktplatz im japanischen Freizeitpark „Glückskönigreich“ in Obihiro auf der Insel Hokkaido.

All diese Punkte zeigen: Das Gänseliesel ist mehr als nur ein kleiner Brunnen in einer niedersächsischen Universitätsstadt. Wahrhaftig verbirgt es viele kleinere und größere Rechtsgeschichten, nicht zuletzt dank des Prozesses von Graf Henckel von Donnersmarck und seinem leidenschaftlichen Einsatz für die Kussfreiheit am Gänseliesel in Göttingen.


Quellen:

  • Günther Meinhardt, Die Geschichte des Göttinger Gänseliesels, Göttingen 1967.
  • Walter Nissen, Göttinger Denkmäler, Gedenksteine und Brunnen, Göttingen 1978, S. 38 f.
  • Stine Marg/ Karin Schweinebraten, „Sire, geben Sie Kussfreiheit!“, in: Das gekränkte Gänseliesel – 250 Jahre Skandalgeschichten in Göttingen, hrsg. Franz Walter und Teresa Nentwig.
  • Der Prozess gegen den Studenten Werner Kuehn, in der Abschrift des Urteils im Stadtarchiv Göttingen: Pol. Dir. VI B F 41 Nr. 14.
  • Alexander Hüsing, „Geben Sie Kussfreiheit“, abrufbar unter https://www.spiegel.de/lebenundlernen/uni/goettinger-gaenseliesel-geben-sie-kussfreiheit-a-138096.html (zuletzt abgerufen am 14.06.2023).

Dieser Artikel entstand im Rahmen unseres Essay-Wettbewerbs “Rechtsgeschichten”, der im Juni 2023 hier auf JURios veranstaltet wurde. Vielen Dank an den Verlag C.H. Beck für das Sponsoring der Preise.

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