Wie aus der “Blutschande” Beischlaf wurde

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Den allermeisten ist bekannt, dass Inzest in Deutschland strafbar ist. Dies regelt § 173 des Strafgesetzbuches (StGB) – Beischlaf zwischen Verwandten. Weitaus unbekannter ist allerdings die langwierige Vergangenheit dieser Strafbarkeit, sowie die unübersichtliche und zugegebenermaßen nicht wenig kritisierte Ausgestaltung des Tatbestands.

Mit einer kurzen Vorstellung der Entwicklungsgeschichte des Inzestverbots und einer aktuellen Betrachtung soll zumindest ein Einblick in die Kuriosität rund um das Inzestverbot ermöglicht werden.

Entstehungsgeschichte des Inzestverbots

Das Wort „Inzest“ leitet sich aus dem lateinischen incestus („unkeusch“) ab und beschreibt den Geschlechtsverkehr zwischen engen Verwandten. In Deutschland ist dieser zwischen Blutsverwandten in auf- und absteigender Linie und leiblichen Geschwistern strafbar.

Die erste Form eines Inzestverbots findet sich bereits in biblischen Rechtstexten, wie dem Buch Levitikus, in welchem von der „Unzucht unter Verwandten“ (Lev 18, 6-18) gesprochen wird. Demnach werden die Ehe und der außereheliche Geschlechtsverkehr zwischen Blutsverwandten unter Strafe gestellt.

Konkret wurde ein Inzestverbot bereits im § 141 des Preußischen Strafgesetzbuchs von 1851 aufgeführt, das die „Unzucht“ mit Zuchthaus oder Gefängnis bestraft hat. Die erste Fassung des § 173 fand ihren Platz im damaligen Reichsstrafgesetzbuch (RStG) von 1871 als Verbrechen unter dem bildlichen Namen der „Blutschande“. Trotz der Kritik zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass das Inzestverbot lediglich die bloße Unmoral bestrafe, wurde es in das Reichsstrafgesetzbuch übernommen, da „[…] Inzest den schwersten Angriff auf das sittliche Wesen der Familie darstelle und Gefahren für die Nachkommenschaft begründe.“

Auch der Gesetzesentwurf von 1927 hielt an der Pönalisierung von Inzest fest, „[…] weil kein strafrechtliches Mittel ungenutzt gelassen werden solle, jugendliche Menschen und auch Erwachsene vor dem Missbrauch durch autoritäre Persönlichkeiten zu schützen“. Während des Nationalsozialismus rückten – passend zur sozialdarwinistischen Ideologie – eugenische Gründe wie die „Abwehr von Erbgefahren“ in den Vordergrund.

Schlussendlich wurde 1973 die Strafdrohung abgesenkt und Inzest als Vergehen in den zwölften Abschnitt des StGB (Straftaten gegen den Personenstand, die Ehe und die Familie) verschoben. In diesem Zuge wurde außerdem die Strafbarkeit des Verschwägerteninzests aufgehoben sowie Minderjährige straflos gestellt (vgl. § 173 Abs. 3 StGB). 1976 wurde ergänzt, dass auch bei Auflösung der Verwandtschaftsverhältnisse durch Adoption die Strafbarkeit bestehen bleibt und damit die finale Fassung des heutigen § 173 StGB geschaffen.

Es wird also deutlich, wie viele verschiedene epochale und ideologische Einflüsse zur heutigen Ausgestaltung der Strafbarkeit des Inzests in Deutschland beigetragen haben. Nun stellt sich jedoch die Frage, wie viel dieser rechtlichen Vergangenheit noch heute Platz in unserem Strafrecht findet.

Aktueller Schutzzweck

Um die Einzüge der Vergangenheit besser verstehen zu können, lohnt es sich, einen Blick auf die aktuelle Lage des Inzestverbots zu werfen. Das Bundesverfassungsgericht nennt seinem Beschluss vom 26. Februar 2008 (Az. 2 BvR 392/07) drei wesentliche Schutzgüter, welche die Strafbarkeit begründen: Familie, sexuelle Selbstbestimmung und eugenische Anliegen.

Vor allem der Schutz von Ehe und Familie sei von besonderer Wichtigkeit, da diese enorm unter den Einflüssen von inzestuösen Beziehungen leiden. Neben der gesamten Familienstruktur werde außerdem das Wohlergehen einzelner Familienmitglieder gefährdet. Im Fall einer Schwangerschaft bestehen aufgrund der Summierung rezessiver Erbanlagen zudem höhere Chancen auf erbliche Schädigungen. Zusätzlich könnte ein Kind aufgrund der gesellschaftlichen Haltung zu Inzest schwerwiegende Diskriminierung und damit einhergehende Schäden erleiden.

Idealerweise soll das Bestehen eines Inzestverbots zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung beitragen, indem die Möglichkeit einer Schutzlücke für das Sexualstrafrecht minimiert wird und so auch komplexere Missbrauchskonstellationen innerhalb der Familie vorgebeugt werden. Nicht zuletzt greift § 173 StGB eine gesellschaftliche Haltung zum Inzestverbot auf und vertritt somit eine generalpräventive Wirkung.

Beischlaf oder nicht?

Diese Begründung klingt überwiegend schlüssig, stößt allerdings spätestens dann unwohl auf, wenn man sich die aktuelle Definition des Beischlafs näher anschaut. Intuitiv würde man unter dem altertümlichen Begriff „Beischlaf“ jegliche Form von Geschlechtsverkehr vermuten.

Dass Beischlaf eine Vereinigung der Geschlechtsteile auf eine Weise, in welcher das männliche Glied – nicht notwendigerweise vollständig – in die Scheide eindringt, voraussetzt, erwartet kaum jemand. Beispielweise würde ein bloßes Einführen des Glieds in den Scheidenvorhof demnach nicht genügen. Vermutlich fallen einem jetzt noch so einige Sexualpraktiken ein, die von der obigen Definition unberührt bleiben. Tatsächlich sind Oralverkehr, Analverkehr und sonstige Auslebungen der Sexualität, nicht von der Definition und damit auch nicht vom objektiven Tatbestand des § 173 StGB erfasst.

Was nun bei dem ein oder anderen zu Scham oder Schmunzeln führen mag, hat für die gesamte Betrachtung des Inzestverbots weitreichende Konsequenzen. Mit diesem Wissen betrachtet man die oben aufgeführten Begründungen schnell in einem ganz anderen Licht. Plötzlich erscheint der Schutz der Ehe und Familie nicht mehr so überzeugend, wenn begründet wird, dass Inzest die Familie als solche gefährde, hierunter jedoch nur vaginaler Geschlechtsverkehr zählen kann. Selbst wenn nur auf diese Art ein Kind entstehen kann, gibt es keinen Grund zur Annahme, dass andere Auslebungen von Sexualität keinen negativen Einfluss auf die Familienstruktur nehmen würden. Auch die Gesellschaft würde moralische Unwerturteile wohl kaum auf Vaginalverkehr beschränken.

Sittliche Motive greifen zwar Jahrtausende in der Geschichte zurück, sind aber vor allem mit der aktuellen Definition nur schwer begreiflich. Auf der einen Seite wird die Familie als so schützenswert erachtet, dass jede Gefährdung vermieden werden muss. Auf der anderen Seite gibt es eine Reihe von Gefährdungen, welche letztendlich keinen Platz im Tatbestand finden können. Offensichtlich ist damit auch ein erweiterter Schutz der sexuellen Selbstbestimmung nur lückenhaft erfasst, da unter dieser Definition von Beischlaf einige Missbrauchskonstellationen nicht vom Tatbestand erfasst sind.

„Hauptsache Gesund“

Immerhin geht es bei dem Verbot von Inzest ja um die Gesundheit der Nachkommen, welche vor Leid durch Erbkrankheiten bewahrt werden sollen.

Hiergegen wird eingewandt, dass es viele Faktoren gibt, welche Einfluss auf die Gesundheit des Kindes nehmen. Zum Beispiel ist der Drogenkonsum der Mutter – übrigens straffrei in Deutschland – eine viel sicherere Gefährdung der Gesundheit eines Kindes. Darüber hinaus erscheint es auch höchst problematisch, inwiefern diese Begründung gegenüber dem Geschlechtsverkehr von Menschen mit sicheren erblichen Krankheiten fortgeführt werden soll. Eine extreme Anwendung dieser Argumentationslinie erfuhr Deutschland unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und zeigt die hohe Bedenklichkeit eugenischer Argumente.

Die Gesundheit eines Einzelnen als Schutzgut ist also fragwürdig. Aber wie steht es um die Gesundheit der Bevölkerung in der Gesamtheit? Tatsächlich lassen sich die meisten der oben genannten Argumente auch hierauf übertragen. Doch selbst wenn man die ethische Problematik dieser Argumentation ausblenden würde, bedarf es überhaupt keiner Gefahr einer Empfängnis.Auch wenn die Möglichkeit einer inzestuösen Schwangerschaft vollkommen ausgeschlossen ist, bleibt das Tatbestandsmerkmal des Beischlafs durch vaginalen Geschlechtsverkehr erfüllt.

Folglich stellt sich also die Frage, ob die Erbgesundheit der Nachkommen überhaupt ein taugliches Schutzgut darstellt, wenn im Zweifelsfall nicht einmal auf die bloße Gefahr einer Schwangerschaft abgestellt wird.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Inzestverbot in Deutschland starke Prägungen der Vergangenheit hat. Zugleich ist unklar, wie genau sich diese besondere Entstehungsgeschichte auf die Strafnorm ausgewirkt hat. Wahrscheinlich ist das unter anderem ein Grund für die logische Inkonsequenz innerhalb der Strafbarkeit. Es fällt auf, dass § 173 StGB in der aktuellen Fassung keiner klaren Linie folgt und gleichzeitig moralische, gesellschaftliche und historische Wurzeln vereint. Die einzelnen Ziele widersprechen sich teilweise selbst und können nur bedingt überzeugen.

Auf der anderen Seite wünscht die Gesellschaft nach wie vor die Bestrafung von Inzest und verlangt vor allem jedes Mittel, um möglichen Sexualdelikten entgegenzuwirken.

Selbstverständlich ist es nicht möglich, alle Aspekte dieser Thematik zu beleuchten. Bestenfalls ist das Inzestverbot nun klarer und es wurde zum Nachdenken angeregt, ob ein strafrechtliches Verbot das passende Mittel zur Bewältigung der Inzestproblematik ist. Wäre ein Umgang, der nicht nur auf Freiheitsstrafe oder Geldstrafe abzielt, nicht sinnvoller? Könnte man den Fokus nicht auf die individuelle Unterstützung Betroffener lenken, statt zu sanktionieren?

Mit all diesen Fragen müssen sich wohl zukünftige Juristen:innen, Mediziner:innen und Psychologen:innen beschäftigen. Klar ist: der Beischlaf zwischen Verwandten ist ein kurioses Erbe unserer vorgehenden Strafgesetze und wird zumindest in dieser Form starke Kritik erwarten müssen.


Dieser Artikel entstand im Rahmen unseres Essay-Wettbewerbs “Rechtsgeschichten”, der im Juni 2023 hier auf JURios veranstaltet wurde. Vielen Dank an den Verlag C.H. Beck für das Sponsoring der Preise.

Platz 1: Das Göttinger Kussverbot und der “Kußprozess” (Tom Hendrik Becker)
Platz 2: Wie aus der “Blutschande” Beischlaf wurde (Joshua Sahin)
Platz 3: Von den Bienchen und ihren Gesetzen (Lina Salaie)

JURios veranstaltete in regelmäßigen Abständen Essay-Wettbewerbe für Jurastudierende und Referendar:innen. Eine Übersicht über unsere vergangenen Essay-Wettbewerbe bekommst Du hier: JURiose Essay-Wettbewerbe

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