1996 – Deutschland ist das dritte Mal Europameister geworden. Angela Merkel, eine aufstrebende CDU-Politikerin, ist seit einem Jahr die neue Umweltministerin – und ein komischer Schotte klont ohne Vorwarnung ein Schaf. Doch inmitten all dieser Geschehnisse ereignet sich auch eine grausame Tat. Im Herbst 1996 befinden sich der Kläger und seine Ehefrau in einer idyllischen Mehrfamilienhaussiedlung nahe Warendorf. Sie werden Zeuge und Opfer einer unglaublichen Gräueltat. Das Urteil wird später als ein Meilenstein der deutschen Rechtsgeschichte in die Geschichtsbücher eingehen. Die Beweise sind erdrückend – besser gesagt nicht zu überhören.
Laute “Yippie-Rufe” beim Sex
Der Kläger warf den Beklagten folgende Untaten vor: In den Monaten von September bis Oktober 1996 sollen die Beklagten den Kläger durch “übermäßige Lärmverursachung in ihrer Wohnung zur Tages- und Nachtzeit gestört [haben, indem sie] lautstark stritten und überlaute Geräusche beim Sexualverkehr von sich […] gaben. Dies sei praktisch regelmäßig und bei jeder Tages- und Nachtzeit geschehen, so daß [sic] er dadurch in seiner Wohnung erheblich gestört worden sei.” Den “Höhepunkt” findet die Anschuldigungen sicherlich in den lauten „Stöhn[geräuschen] beim Sexualverkehr und die [hierdurch] […] ausgestoßene Yippie-Rufe.“
Und nein, ich habe hier nicht das Skript einer mittelmäßigen Comedy-Serie abgeschrieben, die nach dem Traumschiff im ZDF laufen würde. Das hier geschilderte war tatsächlich Bestandteil einer Klage vor dem AG Warendorf.
Der Kläger und seine Ehefrau brachten sogar weitere belastbare Beweise vor: Am 17. Juli 1997 hätten die Beklagten von etwa 21.45 bis 23.30 lautstrak gestritten. Ob noch andere akustische Lärmbelastung in dieser Nacht folgte, ist dem Urteil leider nicht zu entnehmen – ich hoffe aber natürlich, dass sie sich danach versöhnt haben.
Lärmbelästigungen haben ernsthafte Folgen
Studien bezüglich möglicher Schädigungen von Leib und Leben, die durch den Lärm von zu lautem Sex erzeugt werden, existieren nicht. Grundsätzlich ist die erhöhte Lärmbelastung aber eine ernstzunehmende Gefahr. So fanden Forscher der Schweizer SiRENE-Studie 2019 heraus, dass das Risiko an einem Herzinfarkt zu sterben, um 4 Prozent pro 10 Dezibel mehr Straßenlärmbelästigung zunahm. Auch würde sich, laut dem Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin, der Körper deutlich schlechter nachts erholen, wenn zu viel Lärm in der Nacht auftrete. So lustig das Urteil auch scheint, Lärmbelästigungen haben ernsthafte Folgen für uns Menschen.
Aber auch ein anderer Faktor, nämlich wie lange das Liebesspiel im Regelfall dauert, wurde von einer multinationalen Studie penibel erforscht: So haben heterosexuelle Paare im Alter von 18-30 Jahren in der Regel 6,5 Minuten Sex bis zur Ejakulation. Pärchen über 51 im Schnitt nur 4,3 Minuten. In der Studie betrug der Median für alle Teilnehmer 5,4 Minuten, wobei die kürzeste gemessene Zeit lediglich 0,55 Minuten, die längste stolze 44,1 Minuten betrug.
Die gute Nachricht also für unsere Geschädigten: Mit der Zeit sollte sich die Lärmbelästigung auf ganz natürliche Art und Weise immer weiter verkürzen. Die schlechte Nachricht: Möglicherweise waren die Angeschuldigten allerdings auch einfach Supertalente in ihrer Disziplin.
Wie viel Lärm ist beim Geschlechtsverkehr akzeptabel?
Doch das deutsche Gerichtssystem blieb nicht untätig und befasste sich daraufhin mit einer der wichtigsten Fragen der modernen Rechtsgeschichte: Wie viel Lärm ist beim Geschlechtsverkehr akzeptabel? Eine echte Herausforderung, denn sie mussten zwischen dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und dem Recht auf eine halbwegs normale Nachtruhe abwägen.
Die Antwort auf diese Frage wurde durch ein eindeutiges und bahnbrechendes Urteil endgültig geklärt: Die akustische Liebesunterhaltungen müssten laut Gericht fortan in “angemessener Lautstärke” geführt werden. Ein Rückgang von Ohrstöpsel-Verkäufen nach dieser Leitentscheidung konnte ich leider nicht feststellen.
Von einer Zölibat-ähnlichen Auflage sah das Gericht zwar ab, doch ordnete es den “Sexualverkehr bei Zimmerlautstärke” – wohl als effektivste Maßnahme – an. Bei Zuwiderhandlung drohe ein Ordnungsgeld von bis zu 500.000 DM oder ersatzweise eine Ordnungsstrafe von bis zu zwei Jahren. Zum Vergleich: Mit 500.000 DM hätten man sich heute ca. 184.686 Akustikschaumstoffpanels kaufen können – eine möglicherweise sinnvolle Investition.
Doch die Angeklagte wiesen jede Schuld von sich und brachten mehrere Argumente auf, die das Gericht zuvor abwägen mussten. So beriefen sie sich auf Artikel 2 I GG und wollten die freie Entfaltung ihrer, manchmal etwas lauteren, Persönlichkeit geltend machten. Das Gericht erkannte diese Argumentation aber nicht an. Es stellte richtigerweise fest, dass erwachsene Menschen auch bei der Ausübung ihres Sexualverkehrs in der Lage sein müssten, ihr Handeln insoweit zu steuern, dass sie keinen unnötigen Lärm verursachten, der so laut sei, dass er in die Nachbarwohnungen eindringe.
Das Liebespaar als Störer
Insgesamt wog das Gericht die schutzwürdigen Interessen beider Seiten ab. Und man mag es kaum glauben, auch der unfreundliche Nachbar von nebenan, hat Rechte und Interessen, die mit den eigenen kollidieren können.
Das Recht auf individuelle Entfaltung kann zwar akustisch gestaltet werden, doch dieses Recht ist immer einschränkbar, insbesondere durch das Besitzrecht der anderen Mieter:innen, das durch den Mietvertrag gewährt wird. Die andauernde Belästigung durch Lärm sowohl tagsüber als auch nachts beschränke dieses Besitzrecht erheblich, so das Gericht. Das Liebespaar war also tatsächlich ein Störer i.S.d. § 862 I BGB. Des Weiteren stellte das Gericht grundsätzlich fest, dass ein „grenzenloses Ausleben des Sexuallebens […] von Art. 2 des Grundgesetzes nicht gedeckt“ ist.
Auch das Argument der Hellhörigkeit des Hauses konnte nicht überzeugen. Im Gegenteil, man müsse bei einem Miethaus mit einer nicht ausreichenden Schallisolierung besonders auf die Mitbewohner:innen Rücksicht nehmen. Ich frage mich, ob die Polizei seitdem die Wohnung akustisch überwachen lässt. Denn es ist sehr gut vertretbar, dass i.S d. Art. 13 IV GG eine „dringende Gefahr für die öffentliche Sicherheit, insbesondere einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr“ vorliegt. Wobei die Polizei heute wahrscheinlich bereits damit überfordert ist, jeden unter 60, der kein CSU-Mitglied ist, auf Sekundenkleber zu überprüfen.
Auch wenn dieses Urteil – im Kontrast zu diesem unglaublich trocknen und sachlichen Text – etwas skurril erscheint und uns zum Schmunzeln bringt, ist es am Ende das, was juristische Arbeit ausmacht: Nüchtern und sachlich Sachverhalte gerecht und begründet zu entscheiden. Interessen abwägen und als Ergebnis ein Urteil verkünden, das dogmatisch sowie ethisch vertretbar erscheint. Es ist ein Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips, dass auch in ungewöhnlichen und kontroversen Fällen die Prinzipien des Rechts angewandt werden, um Gerechtigkeit zu gewährleisten.
Aber bitte denkt immer daran: Wenn ihr das nächste Mal eure musikalischen Talente im Schlafzimmer üben wollt, dann vergesst nicht eure Nachbarn. Denn nichts ist wichtiger als ein harmonisches Zusammenleben, in dem jeder seine Freiheit genießen kann, solange es nicht die Ruhe und den Schlaf der anderen beeinträchtigt.
Entscheidung: AG Warendorf, Urt. v. 19.08.1997, Az. 5 C 414/97