Pauline Newman, geboren 1927, ist die älteste aktive Bundesrichterin der USA. Die 96-Jährige ist Oberste Richterin am U.S. Court of Appeals for the Federal Circuit. Nachdem ihre Kolleg:innen die Richterin dazu aufforderten, in den Ruhestand zu gehen, wehrte sich Newman gerichtlich dagegen. Sie ist der Meinung, dass ihre Kolleg:innen gegen die Verfassung verstoßen. Denn diese sage nichts über die obligatorische Pensionierung von auf Lebenszeit ernannten Richter:innen aus. „Auf Lebenszeit“ meine also genau dies.
Das Büro der Richterin befindet sich am Lafayette Square mit Blick auf das Weiße Haus und das Washington Monument. Hier befasst sich Newmann täglich mit patentrechtlichen Streitigkeiten. Doch seit Kurzem weigert sich das Gericht, Newman neue Fälle zuzuweisen. Ihre Kolleg:innen sind der Meinung, die 96-Jährige sei körperlich und geistig nicht mehr in der Lage, ihren Job auszuführen. Sie werfen ihr „paranoides“ und „bizarres“ Verhalten vor. Deswegen habe man ihr auch bereits ihre Gerichtsschreiberin, eine Assistentin und ihren Bürocomputer weggenommen – so Newman.
Chemikerin und Patentanwältin
Die 1927 in New York geborene Richterin machte 1947 ihren Bachelorabschluss in Chemie und Philosophie am Vassar College. 1948 folgte ein Master. 1952 erhielt sie einen Doktortitel in Chemie von der Yale Universität. Doch Frauen hatten es in der Branche zur dieser Zeit noch schwer und so kehrte Newman an die Uni zurück und erhielt 1958 einen Bachelor of Laws von der New York University School of Law. Danach arbeitete sie als Patentanwältin und später als Direktorin der Patent-, Marken- und Lizenzabteilung. 1984 nominierte sie Präsident Ronald Reagan als Richterin am 1982 gegründeten United States Court of Appeals for the Federal Circuit, an dem Newman bis heute arbeitet. Nachdem ihr Kollege Giles Rich 2022 mit 95 Jahren verstarb, ist Newman offiziell die älteste amtierende Bundesrichterin der USA.
Um die Kompetenzen der dienstältesten Richterin zu überprüfen, gründete das Gericht einen Ausschuss. In einer Veröffentlichung heißt es, dass Newman leide seit einem Herzinfarkt im Jahr 2021 unter einem „erheblichen geistigen Verfall“. Sie brauche viel länger als andere Richter:innen, um Fälle zu entscheiden. Außerdem konnte sie eine kürzlich durchgeführte Online-Sicherheitsschulung nicht abschließen und gibt Hacker:innen die Schuld, wenn sie eine Datei auf ihrem Computer nicht finden könne. Angeblich vergaß sie auch eine seit fünf Jahren geltende Gerichtsregel und verwies stattdessen auf einen längst verstorbenen Richter. Sie soll ihren Mitarbeiter:innen zudem damit gedroht haben, sie verhaften zu lassen.
Erheblicher geistiger Verfall?
Newman selbst bezeichnete die Anschuldigungen als „entweder falsch oder stark verzerrt“. In der Sache wird Newman von der konservativen Non-Profit-Organisation New Civil Liberties Alliance (NCLA) vertreten, die es für verfassungswidrig hält, eine Bundesrichterin zu zwingen, ihre medizinischen Daten weiterzugeben, sich psychiatrischen Tests zu unterziehen oder sie auf unbestimmte Zeit von Fällen abzuziehen.
Die US-Verfassung besagt, dass Bundesrichter ihr Amt „bei guter Führung“ ausüben, was im Allgemeinen als „auf Lebenszeit“ verstanden wird. Nach einem Gesetz aus dem Jahr 1980 können sich die aktiven Richter:innen eines Bezirksgerichts darauf einigen, eine:n Richter:in nach einer förmlichen Untersuchung zu bestrafen. Doch als Rechtsfolge könne gerade nicht die Entfernung aus dem Amt oder eine unbefristete Suspendierung ausgesprochen werden. Wenn die Richter:innen eine:n Kolleg:in für untauglich halten, könne zwar der Präsident eine andere Person ernennen, aber der oder die untaugliche Richter:in könne trotzdem nicht in den Ruhestand gezwungen werden. Normalerweise treten Betroffene in diesem Fall selbst zurück.
Meisterin der abweichenden Meinung
Dabei fällt Newman nicht erst seit Kurzen auf. Eine Studie aus dem Jahr 2017 ergab, dass sie in ihrer Karriere 290 Mal in Patentfällen abweichende Meinungen vertrat, mehr als dreimal so oft wie der nächsthöhere Richter am Gericht. Verfechter:innen Newmans behaupten, sie arbeite deswegen langsamer, weil ihr die Angelegenheiten so wichtig seien – außerdem wäre es gut, wenn es auch Richter:innen mit einer abweichenden Meinung gäbe. Ruth Bader Ginsburg, bis zu ihrem Tod Richterin am Obersten Gerichtshof der USA, lobte Newman im Jahr 2015 dafür, dass sie jungen Frauen mit „ihrer Intelligenz, ihrem Fleiß und ihrer Hingabe an ein sehr schwieriges Rechtsgebiet Mut gemacht“ habe. Die 2020 mit 87 Jahren verstorbene Bader Ginsburg stand jedoch selbst in der Kritik, ihr Amt als Supreme Court Richterin nicht früher abgegeben zu haben.
Am 6. Juni wurde bekannt gegeben, dass Newman bis zum Abschluss der Ermittlungen keine neuen Fälle zugewiesen werden würden. Am 28. Juni legten Newmans Anwält:innen dem Gericht ein Gutachten von einem Neurologen und Professor an der George Washington University School of Medicine & Health Sciences vor, das besagt, dass er „die Richterin untersucht und ‘keine signifikanten kognitiven Defizite’ festgestellt“ hatte. Er kam zu dem Schluss, dass ihre „kognitiven Funktionen ausreichen, um weiterhin an den Gerichtsverfahren teilzunehmen“. Am 11. Juli erließ der District Court for the District of Columbia eine Verfügung, die die Streitparteien aufforderte, sich auf ein Mediationsverfahren einzulassen. Am 4. August 2023 empfahl ein Gremium des Federal Circuit, bestehend aus den Richtern Moore, Sharon Prost und Richard G. Taranto, Newman für ein Jahr von der Verhandlung von Fällen zu suspendieren, weil sie bei der Untersuchung nicht mit ihren Kolleg:innen kooperiert habe.
Es wird bestimmt nicht das letzte Mal sein, dass Pauline Newman in den Schlagzeilen landet.
Fundstelle: https://www.washingtonpost.com/