Dass Anwält:innen eine hohe Arbeitsbelastung trifft, ist kein Geheimnis. Vor allem in den Großkanzleien sind Arbeitstage bis tief in die Nacht hinein der Normalfall. Das Ranking der meisten „billable hours“ aus den USA ist trotzdem erschreckend.
The American Lawyer veröffentlich jedes Jahr verschiedene Statistiken rund um den Anwaltsberuf in den USA. Im Jahr 2023 kam demnach der oder die Anwält:in mit den meisten “billable hours” aus der Kanzlei Cozen O’Connor. Er gab an, 3.792 Stunden gegenüber Mandant:innen abgerechnet zu haben. Das sind über 10 Stunden – jeden Tag des Jahres. Inklusive Wochenenden und Feiertagen. Krank oder Urlaub? Fehlanzeige! Eine ähnliche Anzahl von “billable hours” wurden in den letzten Jahren auch von den Kanzleien McDemott, Goodwin Procter, Barnes & Thornburn und Jackson Lewis angegeben. Ein all time high war mit 4.595 billable hours im Jahr 2020 erreicht.
Niemals krank, im Urlaub oder Feierabend
Aber ist das überhaupt realistisch? Nein! Bei einer Fünf-Tage-Woche und der gesetzlichen Höchstarbeitszeit von täglich durchschnittlich acht Stunden kommt man auf eine jährliche Arbeitszeit von höchstens 1.680 Stunden. Selbst bei einer sechs-Tage-Woche (wenn also auch Samstags gearbeitet wird) kommt man nur auf 2.000 billable hours im Jahr.
Zumindest wenn man sich an die arbeitsrechtlichen Vorgaben hält. Dass das die meisten Großkanzleien nicht tun, ist ebenfalls kein Geheimnis. Und in den USA gelten diese Regelungen zum Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmer:innen natürlich sowieso nicht.
„Faustregel ist, dass max. 2/3-3/4 der Arbeitszeit seriös billable ist. Bedeutet also rechnerisch Arbeitszeit von 13,5h bis 15,5h an jedem Tag des Jahres…“ schreibt der Anwalt Matthias Kilian auf X (Twitter).
Aber selbst wenn man die gesetzlichen Fristen außer Acht lässt, sind die angegebenen billable hours völlig unrealistisch. Denn „billable“ bedeutet auch tatsächlich „abrechenbar“. Es dürfen also nur Stunden angegeben werden, die auch tatsächlich gegenüber der Mandantschaft abgerechnet werden können.
Wird hier Schmu getrieben?
Nicht jede einzelne Arbeitsstunde, die in einer Kanzlei anfällt, ist jedoch abrechenbar (oder auch nur produktiv). Bevor es überhaupt zu einem Mandatsverhältnis kommt, muss dieses akquiriert werden. Die Akquise kann aber nicht abgerechnet werden. Genauso wenig rein verwaltende Tätigkeiten oder beispielsweise auch Fortbildungsveranstaltungen. Jede:r Fachanwält:in in Deutschland unterliegt der Fortbildungspflicht gemäß § 15 FAO in einem zeitlichen Umfang von 15 Stunden je Kalenderjahr. Außerdem dürfen die armen Anwält:innen nicht einmal während der Arbeitszeit auf die Toilette – bei 10-Stunden-Arbeitstagen eine echte Herausforderung. Der morgendliche Kaffee ist damit natürlich auch gestrichen. Genauso wie die Mittagspause. Wer braucht schon Nahrung?
Viele spekulieren deswegen, dass mit den billable hours viel Schmu getrieben wird. Entweder belügen die Anwält:innen sich selbst und ihre Mandant:innen oder mit dem Abrechnungssystem stimmt irgendetwas nicht. Das vermutet auch Perica Grašarević: „Es gibt Kanzleien, die im Viertelstundentakt abrechnen. Ein 2-minütiges Telefonat oder die Durchsicht einer Ein-Zeiler-E-Mail löst stets 15 Minuten aus. Das summiert sich.“ – auch das wäre aber zumindest in Deutschland nicht erlaubt. Im Land der Freiheit und unbegrenzten (Arbeits)möglichkeiten aber schon. Eventuell sei es auch möglich, dass mit Pauschalen gerechnet werde. Schöpfe eine Kanzlei die Pauschale zeitlich nicht voll aus, könne die dem:r ersten Mandant:in in Rechnung gestellte Zeit, ein zweites Mal verwendet bzw. berechnet werden.
Von deutschen Berufseinsteier:innen in Großkanzleien werden übrigens rund 1.600 billable hours im Jahr erwartet.