Auf der 95. Justizministerkonferenz (JuMiKo) beschlossen die Justizministerinnen und Justizminister der Länder Anfang Juni, dass es „keinen grundlegenden Reformbedarf“ der juristischen Ausbildung gebe. Diese Einschätzung stößt bei Studierenden, Professorenschaft und Praktiker:innen auf große Kritik. Auch im Netz macht sich inzwischen Unmut breit. Dieser äußert sich unter anderem in der Aktion #iurserious sowie in einem offenen Brief der Initiative iur.reform.
„Dieser Beschluss verkennt die Realität und ist eine anachronistische Feststellung, die den Ergebnissen unterschiedlicher Erhebungen und den Erkenntnissen unterschiedlicher Verbände und Initiativen widerspricht“, heißt es im offenen Brief des Bündnisses für eine Reform der juristischen Ausbildung e.V. Stand heute haben bereits über 800 Personen den offenen Brief unterzeichnet. Zu den Erstunterzeichnern gehören neben 20 Professor:innen sowie 20 Praktiker:innen auch der Deutscher Anwaltverein e.V., der Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e.V., die Neue Richtervereinigung e.V. und der Deutsche Juristinnenbund e.V. (djb).
Doch neben dieser sehr formalen Kritik gibt es auch eine Mitmach-Aktion, bei der alle Betroffenen ihre persönliche Meinung zur Reformbedürftigkeit der juristischen Ausbildung äußern können. Unter dem Hashtag #iurserious werden Erfahrungen, Ideen, Kritik und vieles mehr zum Thema geteilt und gesammelt. Auf LinkedIn werden die getaggten Beiträge auf einer Unternehmensseite zusammengefasst. So entsteht auf Dauer eine ganze Sammlung an Reformvorschlägen und Kritik.
Hinter der Aktion steht die Jurastudentin Emilia De Rosa, die auch in der Bundesfachschaft Jura aktiv ist sowie Quint Haidar Aly, Co-Founder der access to justice gUG. Wir haben mit den beiden Initiator:innen über die Hintergründe der Kampagne und ihre Ziele gesprochen:
JURios: Wer kam auf die Idee zu #iurserious / wer steckt dahinter und wie ist der tolle Name/das Wortspiel entstanden?
Emilia & Quint: Wir, Emilia (Jurastudentin & BRF-Aktive) und Quint (Erziehungswissenschaftler & Sozialunternehmer) haben in den zwei Jahren häufig mit Expert:innen aus der Hochschulforschung und Wissenschaftsdidaktik gesprochen. Wenn man diesen Menschen von der juristischen Ausbildung erzählt, ist die Standardreaktion: “Are you serious?”. Der Schritt zum #iurserious war also nicht mehr weit. Und wir sind ihn gerne gegangen, weil #iurserious gleich zwei Dimensionen abdeckt: Einerseits diese Entgeisterung, die immer dann aufkommt, wenn Außenstehende auf die juristische Ausbildung schauen. Andererseits unterstreicht #iurserious die Relevanz, die das Thema hat: Die Zukunft unseres Rechtsstaats entscheidet sich in der Gegenwart. Die juristische Ausbildung spielt dabei eine Schlüsselrolle. Den Diskurs um Reformen sollte man daher ernst nehmen und nicht nur als Befindlichkeit von unzufriedenen Studierenden abtun.
JURios: Mit welchem Ziel habt Ihr die Aktion gestartet? Was erhofft Ihr Euch dadurch?
Emilia & Quint: #iurserious will einen breiten, informierten und (ergebnis-)offenen Diskurs über die juristische Ausbildung. Dabei sehen wir genau eine Prämisse als gesetzt an: Über das WIE kann man streiten, über das OB nicht. Gemeint ist die grundsätzliche Reformbedürftigkeit, die aus unserer Sicht keiner weiteren Diskussion bedarf. Denn ganz unabhängig davon, ob die Ausbildung ehemals exzellent gewesen sein mag oder genau das Gegenteil – spätestens die Anforderungen des 21. Jahrhunderts stellen ein Ausbildungssystem aus dem 19. Jahrhundert grundlegend in Frage. Punkt.
Darüber hinaus verfolgt #iurserious aber keine eigene inhaltliche Agenda. Aus diesem Grund haben wir die Aktion auch ganz bewusst als Einzelpersonen gestartet und nicht über den BRF gelaunched – keine vested Interests, der Hashtag ist unabhängig und ohne Hidden Agenda. Vielmehr soll und muss #iurserious ein Gemeinschaftsprojekt sein, damit sich der Diskurs über einzelne Bubbles hinweg vernetzt und somit Stück für Stück an Sichtbarkeit gewinnt. Wenn künftig alle Beiträge zur juristischen Ausbildung den Hashtag #iurserious verwenden, haben wir schnell eine riesige Datenmenge, die über einen einzigen Ankerpunkt erfasst und ausgewertet werden kann. Wenn wir den Diskurs auf diese Weise zu uns in öffentlichen Raum holen, steht die JuMiKo unter Zugzwang – denn Nichtstun im Scheinwerferlicht kommt selten gut an…
JURios: War die Aktion eine direkte Reaktion auf den Beschluss der JuMiKo? Werdet ihr die „Ergebnisse“ den JuMiKo-Verantwortlichen irgendwie mitteilen?
Emilia & Quint: Wir haben schon länger mit dem Gedanken gespielt, aus #iurserious eine Social Media Aktion zu machen. Durch den Beschluss der JuMiKo musste es aber plötzlich ganz schnell gehen – diese Steilvorlage konnten wir uns nicht entgehen lassen.
In den vergangen Monaten waren wir mehrfach mit Justizminister:innen und Bundespolitiker:innen im Gespräch – #iurserious ist das Ergebnis davon. Denn alle Beteiligten sagen letztendlich das gleiche (mal mehr, mal weniger deutlich): Politisch kann man mit einer Reform der juristischen Ausbildung nichts gewinnen. Die Früchte einer erfolgreichen Reform würden immer erst die Nachfolger:innen ernten. Der Zivilgesellschaft bleibt deshalb nur übrig, das Nichtstun unattraktiv zu machen, also die politischen Kosten eines “weiter so” zu erhöhen. #iurserious setzt genau hier an, in dem es eine Art Sammelbecken für den Diskurs bildet – Beitrag für Beitrag wächst die Evidenz, Beitrag für Beitrag steigt der Druck. Um Ausreden vorzubeugen, werden wir die JuMiKo und die Öffentlichkeit regelmäßig mit Auswertungen versorgen – theoretisch könnte die JuMiKo das aber auch selbst, die Datenlage ist maximal transparent.
JURios: Wie viele Leute haben bereits teilgenommen / wie war das Feedback aus Studentensicht, von Professorenseite und aus der Praxis?
Emilia & Quint: Mitgeteilt haben sich hunderte Menschen, interagiert haben (Zehn)Tausende. Auf jeden Fall also mehr als die 90 Befragten des KOA-Berichts. Positives Feedback kam von Studierenden, Praktiker:innen und Wissenschaftler:innen gleichermaßen. Gerade in den Kommentarspalten wurde nochmal deutlich, dass der öffentliche Diskurs schon so viel weiter ist als der Politische. Reformbedarfe wurden differenziert analysiert und mit Daten hinterlegt, Reformansätze wurden als Hypothesen formuliert sowie auf Potentiale und Risiken hin abgewogen. Die Beitragenden haben sauber unterschieden zwischen eigener Erfahrung, wissenschaftlichen Erkenntnissen und persönlicher Meinung. Aber wie gesagt, bei dieser einmaligen Aktion darf es nicht bleiben. Wir müssen es jetzt in eine “Always on” Debatte schaffen. Ein Beitrag nach dem anderen, alle durch #iurserious miteinander verbunden. Wenn der öffentliche Druck immer nur für wenige Wochen anhält, lässt er sich zu leicht aussitzen.
JURios: Was hat Euch am Beschluss der JuMiKo am meisten geärgert und was ist Euer Lieblings-Reformvorschlag?
Emilia & Quint: Das Bundesverfassungsgericht schützen, eine Kampagne für den Rechtsstaat – die JuMiKo scheint durchaus erkannt zu haben, welche Herausforderungen auf unseren Rechtsstaat zukommen. Aber anstatt auf struktureller Ebene Probleme zu lösen, greift man zu Hotfixes beziehungsweise nach den Low Hanging Fruits. Die Zukunft unseres Rechtsstaats sollte aber weit höher gehängt werden. Unser Rechtsstaat ist es wert, mehr als nur das politische Minimum zu investieren. Bund und Länder müssen endlich Gestaltungswille entwickeln und die Herausforderung selbstbewusst angehen: “Ja, wir werden die juristische Ausbildung aus der Preußen-Ära ins 21. Jahrhundert führen. Ja, die Zukunft unseres Rechtstaats ist die Mühe wert“.
Wie bereits angeklungen, #iurserious muss und wird Raum für alle Lösungsvorschläge bieten, wir wollen einen ergebnisoffenen Diskurs fördern. Das zu sagen wäre wahrscheinlich unglaubwürdig, wenn wir direkt die erste Gelegenheit nutzen würden, um unsere persönlichen Favoriten ins Schaufenster zu stellen.
JURios: Und schließlich: Gibt es etwas, dass Ihr unbedingt loswerden wollt?
Emilia & Quint: Ja, und zwar folgendes: Der Ruf einer anspruchsvollen Prüfung macht diese noch längst nicht aussagekräftig.
Worum es uns dabei geht: Wir müssen endlich klar und detailliert bestimmen, worauf es in volljuristischen Berufen ankommt. Welche Kompetenzen braucht es, um diese Profession verantwortungsvoll ausfüllen zu können? Hier geht es um Prioritäten und Haltungsfragen, die im Dialog zwischen Rechtswissenschaft und Politik geklärt werden müssen. Sobald die Anforderungen feststehen, muss daraus ein Mechanismus zur Qualitätssicherung abgeleitet werden. Dieser stellt künftig sicher, dass alle Volljurist:innen die eingangs festgelegten Kompetenzen besitzen. Für diesen Schritt braucht es Unterstützung aus Psychologie und Erziehungswissenschaft: Aussagekräftig zu prüfen ist nämlich eine testtheoretische Frage, keine rechtswissenschaftliche. Wenn am Ende eines solchen Prozesses die juristischen Staatsprüfungen in Ihrer aktuellen Form stehen – super, ein Reformbedarf weniger. Falls nicht, sollten wir das aktuelle Prüfungssystem schleunigst durch eines ersetzen, das dem Versprechen der Qualitätssicherung gerecht werden kann.