Im Sommer 2024 erschienen überraschend gleich zwei wissenschaftliche Werke, die sich aus juristischer Perspektive mit den Harry Potter Büchern auseinandersetzen. Eines davon ist Frauke Heidemanns Buch „An International Law Perspective on Harry Potter: Explaining Core Principles of International Law by Testing their Relevance in the Wizarding World“, das im Springer Verlag veröffentlicht wurde.
Gleich in der Einleitung richtet sich die Juristin an alle, die sich beim Lesen der Harry Potter Bücher schon einmal Gedanken über die Koexistenz von Muggeln und Zauberern und die daran anknüpfenden Rechtsfragen gemacht haben. „Did you ever scratch your head thinking about whether the death eaters were committing crimes against humanity? Have you raised the question whether the members of Dumbledore’s Army could be considered child soldiers?“
Kein Spaßprojekt, sondern ernstzunehmende Forschung
Bei dem Werk handele es sich jedoch nicht nur um ein spaßiges Hobbyprojekt der Autorin. Viel mehr verspricht Heidemann den Leser:innen, dass ihr Verständnis des Völkerrechts durch das Buch geschärft werde. Bei „An International Law Perspective on Harry Potter“ handele es sich um eine ernstzunehmende wissenschaftliche Arbeit. „Why not test our legal regime by applying it to a totally out-of-the-box concept such as witches and wizards and thus ridding the debates from political factors? Let’s be honest, we can all use a break of heated political debates from time to time.“
Bevor die Leser:innen kopfüber in die magische Welt eintauchen, erklärt die Autorin in einem vorangestellten Kapitel zunächst die Grundzüge des Völkerrechts. Das ist vor allem hilfreich für Nichtjurist:innen, die sich das Buch nur wegen der Erwähnung des Zauberlehrlings im Titel gekauft haben.
In den darauffolgenden Kapiteln wirft Heidemann grundlegende Fragen aus dem öffentlichen Recht auf. Gibt es in der magischen Welt Staaten? Und wenn ja: Wie funktioniert deren Regierung? Dabei geht sie insbesondere auch auf die Frage der doppelten Staatsbürgerschaft Muggelstämmiger ein. Aus der Existenz des Zaubereiministeriums schließt Heidemann dann unter anderen: „Our look at wizarding populations, territory and governments has shown that the wizarding state of Britain fulfills the criteria of a state.“
Staatsrecht, Menschenrechte, Strafrecht und (internationales) Völkerrecht
Nachdem diese grundlegende Feststellung etabliert wurde, fragt die Autorin weiter, unter welchen Umständen ein Staat für Straftaten verantwortlich gemacht werden kann. Dabei geht es unter anderem um die Frage, wer für einen Staat handeln kann und darf. Bei welchen Personen es sich also um sog. „Organe“ handelt. Hier sind natürlich vor allem die Zaubereiminister interessant. Doch Moment – gelten diese Grundsätze auch für Pius Thickness, der während seiner Amtszeit unter dem Imperius-Fluch stand?
„A more complicated case is Minister for Magic, Pius Thicknesse. During his term, he was under the Imperius curse and thus unable to exercise his free will. In his role though, he is still considered a state organ. The question of the Imperius curse will be more relevant regarding the circumstances precluding wrongfulness. But yes, whether Fudge, Thicknesse or Percy Weasley, all of them can be considered state organs and their acts—while in official capacity—can be attributed to the wizarding state based on Art. 4 ASR.“
In nur wenigen Absätzen etabliert Heidemann auch, dass die Zaubererwelt (bzw. das Zaubereiministerium) die Gerichtsbarkeit über die Straftaten von Hexen und Zauberern inne hat. „The fact that crimes committed by witches and wizards always fall under wizarding jurisdiction also makes perfect sense. As stated earlier, try to image a police officer to restrain a witch to her cell even though she could simply use the Alohomora spell and walk out of there.“
“Are the Death Eaters Committing Genocide?”
Der Schwerpunkt der Erörterung liegt dann auf der Frage, wie man internationales Recht auch in der Zaubererwelt durchsetzt. Eine zentrale Rolle nimmt dabei die Internationale Zaubereivereinigung ein. Besonders spannend wird es auch in den Kapiteln, in denen die Autorin die Rolle der Todesser unter Lord Voldemorts Schreckensherrschaft untersucht. Dabei kommt sie zum Ergebnis, dass die Todesser de facto wie eine Regierung handeln und zu behandeln sind.
„They de facto control the wizarding government and can therefore be considered the “governing party”. The death eaters and Voldemort will therefore in this case be like the national government—please let that sink in for a while.“
Und auch das Strafprozessrecht kommt in „An International Law Perspective on Harry Potter“ nicht zu kurz. So zweifelt die Autorin im Hinblick auf Sirius Black und Hagrid den Fair-trial-Grundsatz und die Unschuldsvermutung an. Ähnliches gelte auch für Harrys disziplinarische Anhörung:
„Let’s stop right here before we move on to any of the other questionable things that occurred. First, Harry was expulsed and then asked to attend a disciplinary hearing to determine whether he was actually guilty. If you want to paint a picture of lack of presumption of innocence, this is it. There was clearly a bias in favor of assuming that he was guilty, before Harry even set foot in the Ministry of Magic.“
Lehrreich, kurzweilig, unterhaltsam
Mit etwas über 100 Seiten handelt es sich bei „An International Law Perspective on Harry Potter“ um ein Buch, das man problemlos in einer Woche von vorne bis hinten lesen kann. Dazu trägt nicht nur das unterhaltsame Thema bei, sondern auch die klare Sprache der Autorin. Das Werk ist sehr feingliedrig aufgebaut, sodass ein Unterkapitel teils nicht einmal eine Seite lang ist. Das ist dem Umstand geschuldet, dass die Autorin oftmals Fragen aufwirft, die sie dann in ein oder zwei Absätzen direkt beantwortet. Das hat den Vorteil, dass man sich keinen langatmigen Fließtext ausgesetzt sieht, sondern das Buch „happenweise“ genießen kann.
Als Harry Potter Fan und Strafrechtlerin, die sich intensiv mit beiden Themen auseinandergesetzt hat, habe ich wenig Neues über die Zaubererwelt gelernt. Aber dafür umso mehr über das Völkerrecht. Denn Harry Potter dient hier letztendlich nur als Anknüpfungpunkt, um Grundsätze des internationalen Rechts darzustellen und näher zu erläutern. Durch diese ungewöhnliche Verknüpfung entsteht eine für Jurist:innen komplett neue Leseerfahrung. Wer die Forschungsdisziplin „Law and Literature“ bisher nicht ernst genommen hat, wird sich nach der Lektüre des Buches eines Besseren belehrt sehen. Und auch Harry Potter Fans kommen bestimmt auf ihre Kosten.