Dieser Tage las ich den JURios-Beitrag von Kathrin Bauer, überschrieben Die Blockversager: Welches Signal das JPA Hamm damit an seine Examenskandidat:innen sendet. (Ein bisschen grinsen musste ich, weil die Blockversager männlich sind, die Examenskandidat:innen alle Geschlechter haben können – und in Wirklichkeit die Leute, die das Staatsexamen nicht bestehen, überwiegend weiblich sind, sogar überproportional häufig. Eine erfreuliche post-feministische Perspektive! Aber egal, darum ging es ja gar nicht.)
Die Wortwahl des Justizprüfungsamts, über die sich so gut wie alle geärgert haben (ich auch), nimmt Bauer zum Ausgangspunkt für die Frage, ob das juristische Studium mitsamt den daran hängenden Prüfungen mal grundsätzlicher reformiert gehört. Das wird letzthin breiter – aber weitgehend folgenlos – diskutiert.
Fast jeder Satz ist mir aus der Seele geschrieben.
Nicht ausnahmslos. Ein Punkt geht mir so gegen den Strich, dass ich den hier mal schnell aufgreifen muss. Finde, der gehört echt nochmal zur Diskussion gestellt.
Es geht um die – häufig beklagte – wachsende Stoffmenge. Im Text ist das so formuliert: „Dabei wird übersehen, dass der Prüfungsstoff in den letzten Jahrzehnten nicht nur massiv angewachsen ist, sondern sich auch die Struktur der Prüfung verändert hat.“
Das Argument finde ich, je öfter ich drüber nachdenke, immer misslicher. Ich schlage deshalb vor, künftig darauf zu verzichten.
Mit folgenden Überlegungen:
1. Wenn durch die wachsende Stoffmenge das Examen immer schwieriger zu bestehen sein sollte, ist kaum zu erklären, wieso seit Jahrzehnten die Ergebnisse eigentlich immer gleich (leider: gleich schlecht) ausfallen. Es sei denn, man wollte annehmen, die Kandidaten würden bei wachsender Stoffmenge immer schlauer, so dass sie Ergebnisse eben konstant blieben. Möglich, aber unwahrscheinlich. Deckt sich auch nicht mit den Erfahrungen von Lehrenden und Prüfenden.
2. Es ist kommunikativ immer ein wenig schwierig, wenn die heutigen Examenskandidaten den heutigen Prüfern erklären, dass zur Zeit von deren Prüfungen praktisch jede Tomate (zur Erinnerung: der IQ der Tomate liegt bei etwa 4-5) das Examen mit Doppelprädikat bestanden habe, während heute nur noch Einsteins Erben mit viel Glück gerade eben so auf das „ausreichend“ kommen könnten. Ich kann Prüfer und Prüfungsämter verstehen, die an diesem Punkt das Interesse am Diskurs verlieren. Das Examen war schon immer eine Zumutung, für die die Leute gelernt haben bis zur Schlaflosigkeit. Und wer den heutigen Entscheidungsträgern die Kompetenz abspricht, weil die unter aktuellen Bedingungen das Examen nie bestehen würden, muss sich nicht wundern, wenn die Entscheidungsträger nicht mehr zuhören.
3. Das Problem ist nicht Stoffmenge, sondern der in der Prüfung angelegte Maßstab. Man kann auch exotische Themengebiete zum Prüfungsgegenstand machen, wenn dabei gewährleistet bleibt, dass die Kandidaten mit Grundlagenwissen und methodischem Gespür eine sinnvolle und solide zu bewertende Leistung bringen können. Über diese Maßstäbe lohnte es sich zu diskutieren – und hier wäre ein wenig mehr Transparenz seitens der Prüfungsbehörden hilfreich.
4. Natürlich ist es unschön, wenn man in der ersten Kandidatenkohorte landet, die ein umfangreich renoviertes Schuldrecht mit zahlreichen langen neuen Paragraphen anwenden muss, die möglicherweise noch nicht einmal immer an der systematisch richtigen Stelle im Gesetz stehen. Aber das ist wohl juristisches Berufsrisiko.
5. Wir leben in einer Welt, in der immer mehr Konflikte auch als rechtliche beschrieben und ausgetragen werden. Gesetzgeber, Gerichte und Wissenschaft sind ungebrochen produktiv – und nehmen ganz sicher keine Rücksicht auf die Bedürfnisse von Prüfungskandidaten. Professionell handelnde Juristen sind mit der gleichen Zunahme an gesetzlichen Regelungen, Urteilen, Festschriftenbeiträgen etc. konfrontiert wie Examenskandidaten.
6. Wer sich über die wachsende Stoffmenge beklagt, klingt fast zwangsläufig ein wenig weinerlich.
Deswegen schlage ich vor, das Argument fallenzulassen.
Wer schon einmal anwaltlich gearbeitet hat, kennt die Situation: Man hat zur Stützung des eigenen Rechtsstandpunkts so ungefähr sieben Argumente zusammen- und schriftsätzlich möglichst überzeugend vorgetragen. In der mündlichen Verhandlung erörtert ein erkennbar gut vorbereiteter Beisitzer die nun Stück für Stück. Eins davon hält er für unsinnig, obwohl man selbst es eigentlich ganz gern mochte. Und darauf weist er – in den Grenzen der kollegialen Höflichkeit – halbwegs deutlich hin. Was tut man, wenn er den anderen sechs Argumenten zugeneigt ist? Man lässt es fallen, nötigenfalls gegen innere Widerstände, bestenfalls ungerührt.
Und so sollte auf das Stoffmengen-Argument verzichtet werden. Weil es in Wirklichkeit ein ziemlich schwaches Argument ist. Die juristische Ausbildung mitsamt den Prüfungen ist nicht wegen der wachsenden Stoffmenge reformbedürftig.
Das schließt nicht aus, über Stoffmengenprobleme zu reden. Vielleicht gehören sie sogar auf eine Liste mit Reformideen ziemlich weit nach oben. Gut möglich. (Und wie alle anderen hätte ich ein paar individuelle Favoriten für das Streichkonzert.) Aber das Problem des Examens liegt nicht im vielen Stoff. Sondern in der Art, wie geprüft wird, in der oft sehr geringen Transparenz der Bewertungskriterien, in der ziemlich einseitigen Klausurfixiertheit der Prüfungsordnungen und noch ein paar anderen Dingen mehr.
Warum finde ich das wichtig? Weil man mit zwei oder drei schwachen Argumenten die Überzeugungskraft von fünf oder sechs starken Argumenten ruinieren kann. Also verzichten wir auf die Stoffmassen-Weinerlichkeiten!
Vielen Dank, wenn Ihr mal drüber nachdenkt.