Oder: Warum juristische Recherche geübt sein will
Oder: Geschichten, die der Alltag schreibt
An meiner Lieblingshochschule gibt es im Studiengang Wirtschaftsrecht einen Kurs, der heißt „Arbeitstechniken Recht“. Wenn ich den unterrichte, versuche ich immer, wenigstens eine schlanke Lerneinheit darauf zu verwenden, wie man Gesetze und Urteile und rechtswissenschaftliche Texte sucht und findet. Mit Datenbanken und in Bibliotheken. Und jedes Mal sage ich den Studenten: Das ist wichtig; übt das; Ihr werdet das brauchen! Ich glaube nicht, dass mir jemand glaubt. (manchmal bin ich noch nicht einmal sicher, dass mir jemand zuhört…)
Also erzähle ich hier mal eine kleine Alltagsgeschichte, die zeigt, ob das wichtig ist. Sie geht so: Letztens ging durch die Juristenblase ein Grummeln ob einer aktuellen Gerichtsentscheidung. Das OLG Frankfurt hat nach einem in der Öffentlichkeit viel beachteten Prozess wegen Mordes an einem hessischen Politiker beschlusswegig dem Pflichtverteidiger eines der Angeklagten die beantragte Pauschgebühr versagt. Eine mittlere fünfstellige Summe wegen des ungewöhnlichen Arbeitsaufwands. Über diesen Beschluss haben mehrere juristische Kollegen ziemlich den Kopf geschüttelt. Berechtigterweise, finde ich.
Dass das Gericht den Aufwand des Anwalts für das umfangreiche Verfahren bei weitem zu niedrig angesetzt hat, ist ein Schlag ins Gesicht des Rechtsanwalts. Es überfliege einmal den Beschluss, wer wissen will, ob sich Pflichtverteidigungen wirtschaftlich lohnen. Nicht ganz zufällig ist in den Gründen vom Sonderopfer die Rede; damit ist nicht der Pflichtverteidiger gemeint, sondern das, was er bringen darf (also nicht Du Sonderopfer!, sondern Bro, bringstU Sonderopfer!).
Egal. Für unsere Zwecke interessant ist eine schriftsätzliche Äußerung des antragstellenden Rechtsanwalts, die das Gericht im Beschluss zwar korrekt in indirekte Rede gesetzt hat, auf die es aber inhaltlich nicht eingegangen ist:
Ferner sei es im vorliegenden Verfahren um den ersten rechtsradikalen Mord seit dem Anschlag auf Reichsaußenminister Rathenau im Jahr 1922 gegangen, daher sei der Antragsteller gezwungen gewesen, das diesbezügliche Urteil des Reichsgerichts in Leipzig, das in keinem gängigen Archiv aufbewahrt worden sei, auszuwerten. Er habe es nach mehreren Tagen Arbeitsaufwand dann aufgefunden.
OLG Frankfurt v. 7.3.2024, 2 ARs 10/22, 5-2 StE 1/20 – 5a – 3/20, Rn. 5
Daran finde ich zweierlei bemerkenswert:
1. Nur noch mal schnell für’s Protokoll: es hat also seit 1922 in Deutschland keine rechtsradikalen Morde mehr gegeben. Echt jetzt?
Sollten es tatsächlich die Nazis geschafft haben, ohne einen einzigen Mord an die Macht gekommen zu sein? (falls jemand Zeit hat, die Klassiker von Emil Julius Gumbel zu lesen – lest Gumbel) und sollte es in den zwölf Jahren des tausendjährigen Reichs keinen einzigen rechtsradikalen Mord gegeben haben? Ich hatte immer gedacht, die zählten nach Millionen. (die Erklärung ist einfach: vermutlich waren sie schlicht nicht rechtsradikal, die Nazis, so wie sie auch weder banal noch böse waren, nicht Rassisten oder Nationalisten; die Konzentrationslager, der Völkermord, die Gestapo und der Krieg, ach ja…) und sollte in der Geschichte der Bundesrepublik keine mörderische Gewalt von der extremen politischen Rechten ausgeübt worden sein?
Na dann. So wird es wohl gewesen sein.
Solche Aussagen kann man als Gericht natürlich richtigstellen; aber eine gesetzliche Verpflichtung besteht dazu nicht. (Wenn man sie zu hartnäckig ignoriert, wird daraus vielleicht irgendwann eine allgemeine Überzeugung.)
2. Aber eigentlich lächeln musste ich über die zweite Hälfte des Satzes – zum Thema Beschaffungsaufwand für alte Gerichtsurteile.
Der Anwalt, der auf die Suche nach dem benötigten Urteil ging, hätte zunächst das entscheidende Gericht identifizieren können. Das war – die Wikipedia weiß das – nicht das Reichsgericht, sondern der 1922 errichtete Staatsgerichtshof zum Schutze der Republik. Dessen Urteil vom 14. Oktober 1922 zu finden, ist tatsächlich nicht ganz einfach, denn es gibt keine amtliche Entscheidungssammlung des Gerichts.
Die Bibliotheken fallen aus. Die Datenbanken, etwa juris und beck-online, fühlen sich für so ne ollen Kamellen nicht zuständig. Auch das Bundesarchiv stellt kein Digitalisat zur Verfügung. Und nach Moskau reisen, möchte man augenblicklich auch nicht, obwohl das Urteil dort im russischen staatlichen Militärarchiv (zasm) zu finden wäre. Es mag also historisch beschlagenen Zeitgenossen der Rathenau-Mordprozess (man lese die Bücher des Historikers Martin Sabrow, klicke sich durch die zahlreichen Reportagen aus 2022 im Internet oder beginne hier) ein Begriff sein, das Urteil in diesem Verfahren liest kaum jemand.
Braucht es deshalb aber mehrere Tage Arbeitsaufwand, um das Urteil zu finden? (spaßige Tatsache am Rande: Wer den Beschluss des OLG bis zum Ende liest, erfährt, dass auch die andere Pflichtverteidigerin des Angeklagten mehrere Tage suchte, bis sie das Urteil fand. Interessant: Zwei Volljuristen mit jahrzehntelanger anwaltlicher beruflicher Erfahrung investieren unabhängig voneinander jeweils mehrere Arbeitstage in die Suche. Was das wohl kostet?)
Wie so oft: es kommt drauf an. Nämlich darauf, wie man sucht.
Daher hier eine kleine Übungsaufgabe für das internetaffine Publikum: Welchen Text muss man in die Standardsuchmaschine eingeben, um das Urteil binnen einer Minute als Digitalisat aus einem unverdächtigen deutschen Archiv herunterladen zu können?
Wer als erstes eine funktionierende Suchanfrage an redaktion@jurios.de schreibt, bekommt ein Exemplar des Buches “Juristische Recherche – analog und digital”, das im Oktober 2024 erscheint, geschenkt.
Das Gewinnspiel endet, sobald eine Person die richtige Antwort eingereicht hat. Das Ende des Gewinnspiels wird hier an dieser Stelle bekanntgegeben. Freiwillige Zusatzfrage: Kann man ChatGPT so prompten, dass es die Fundstelle liefert? Wenn ja: Wie?
Die Auslobung ist beendet. Die richtige Antwort wurde gefunden.
Und jetzt nochmal für die Wirtschaftsjuristen: warum diese kleine Übung nützlich ist? Naja, so sparen Sie mehrere Tage Arbeitsaufwand, wenn Sie eines Tages mal anwaltliche Recherche machen. Die freigewordene Zeit können Sie anders nutzen, zum Golfspielen etwa. heruntergebrochen auf schnöde Zahlen: wenn der Tag acht billable Arbeitsstunden hat, die zu bescheidenen 50 Euro abgerechnet werden, und Sie vier Tage lang suchen, bedeutet das: die Beschaffung des Urteils hat 1.600 Euro gekostet. welchen Betrag würde also der Anwalt einem externen oder internen Datenbeschaffer zahlen? Und welchen Stundenlohn würde dieser Datenbeschaffer realisieren können, wenn er für die Beschaffung des Urteils nur 20 Minuten bräuchte?