Das Rechtsempfinden von Nicht-Juristen und das keineswegs immer, schon gar nicht bei allen Bürgern „gesunde Volksempfinden“ leiten sich auch von bekannten Sprichwörtern und Redewendungen ab, die zwar im weiteren, oft auch übertragenen Sinne ihre Berechtigung haben, aber oft nicht zutreffen. Einige davon wollen wir nun einmal unter die Lupe nehmen.
Unter der auch aus Fernsehkrimis (TATORT, diverse SoKos) geläufigen „Gefahr im Verzug“ verstehen die meisten und oft sogar Polizisten eine heranziehende, sodann bedrohliche Notlage. Erinnern Sie sich?: In diesem Sinn spielt auch eine „Wilsberg“-Folge von 2010.
Wenn der Direktor der örtlichen Sparkasse einen anonymen Hinweis auf einen geplanten Bankraub erhält und dennoch erstmal in bewährter Pünktlichkeit Mittagspause – dann ist ‚Gefahr im Verzug‘.
Formaljuristisch beschreibt die Wendung jedoch eine Sachlage, bei der ein Schaden eintreten würde oder ein Beweismittel verloren ginge, wenn nicht an Stelle der zuständigen Behörde oder Person eine andere Behörde oder Person unmittelbar tätig wird. In Juraklausuren wird der Begriff vor allem in der StPO relevant, nämlich dort, wo eine bestimmte Handlung eigentlich die Entscheidung eines Richters voraussetzt (sog. Richtervorbehalt). Kann diese wegen Gefahr im Verzug nicht rechtzeitig eingeholt werden, darf ausnahmsweise die Staatsanwaltschaft tätig werden.
„Beamtenbeleidigung ist besonders strafbar!“
Die ‚Beamtenbeleidigung‘ ist vermutlich eine Erfindung von Beamten, die sich für etwas Besonderes halten, für schützenswerter als vermeintlich ‚gewöhnliche‘ Zeitgenossen. In Wirklichkeit gibt es lediglich den Straftatbestand der Beleidigung (§ 185 StGB), gleich ob sie einem Bäcker, einer Blumenhändlerin oder einer Buchhalterin gilt.
Sie kann den ‚Täter‘ teuer zu stehen kommen: Der noch heute (vor allem für seinen ‚Stinkefinger‘ bei der WM 1994) bekannte Fußballer Stefan Effenberg musste vor Jahren 100.000 DM berappen, weil er bei einer Verkehrskontrolle einen Polizeibeamten mit Goethes ‚Götz‘-Zitat bedacht hatte. Hierzu ist freilich anzumerken: Die Polizei schützt unsere aktuell bedrohte Demokratie. Wer sie angreift (und sei es ‚nur‘ verbal), greift uns alle an!
„Unwissenheit schützt vor Strafe nicht!“
Diese alte Volksweisheit wird wohl vor allem in KITAs, in Jugendheimen, an Schulen, in Handwerksbetrieben gelehrt – und ist doch oft falsch.
Zwar setzen alle Straftatbestände neben einer objektiven Seite auch eine subjektive Komponente (Vorsatz oder Fahrlässigkeit) voraus. Wer über die Strafbarkeit seines Handelns irrt, handelt jedoch nach § 17 StGB nur dann schuldlos, wenn dieser Irrtum unvermeidbar war. Und daran sind sehr hohe Anforderungen geknüpft.
Bekanntgeworden und auch nach fast vier Jahrzehnten durchaus noch lehrreich ist der Fall, ja Skandal einer diskriminierenden Satire in der Zeitschrift ‚Titanic‘ von 1988, welche die Persönlichkeitsrechte eines querschnittsgelähmten Bundeswehroffiziers verletzte, der seine Teilnahme an einer Reserveübung durchgesetzt hatte. Unter der in diesem Zusammenhang allein schon beleidigenden Überschrift „Die sieben peinlichsten Persönlichkeiten des Monats“ unterstellte der sich besonders witzig dünkende Autor ihm „unheimliche“ Freude „aufs Kriegspielen“, stellte spöttisch seine geistige Zurechnungsfähigkeit infrage („Zweifel an der Vollzähligkeit Ihrer Tassen im Spind“), nannte ihn gar in einem (Folge-),Brief an die Leser‘ einen „Krüppel“!
Zwar billigte ihm das Amtsgericht Frankfurt a.M. zunächst einen sogenannten ‚unvermeidlichen Verbotsirrtum‘ zu, weil eine Verlagsjuristin die Glosse vorab geprüft und für zulässig erklärt hatte. Strafrechtlich war der Möchte-gern-Satiriker damit also aus dem Schneider; allerdings verhängte das Oberlandesgericht in zweiter Instanz gegen die Zeitschrift wegen leicht erkennbarer „Schmähkritik“ ein Schmerzensgeld in Höhe von 12.000 DM.
Oft trifft das Sprichwort also zu.
„Schleichwerbung ist verboten!“
In unseren inflationär häufigen Talkshows erleben wir immer wieder, wie eine B- Prominente oder ein C-Prominenter (z.B. der dritte Torwart eines Zweitligaclubs) aus Versehen oder gar zwecks Angabe absichtlich ihre Uhren- bzw. seine Automarke nennt und der Moderator reflexartig mehrere „ebenfalls sehr bekannte“ Marken herunterleiert, aus Angst, er werde wegen ‚verbotener Schleichwerbung‘ anderntags zum Programmdirektor oder gar zur Intendantin zitiert.
Diese Sorge ist unbegründet.
Schleichwerbung (die laut Medienstaatsvertrag verboten ist) liegt nämlich nur vor, wenn sie „vom Veranstalter (der Sendung) absichtlich zu Werbezwecken vorgesehen ist und die Allgemeinheit … irreführen kann“.
Aufsehen erregte allerdings die beliebte Moderatorin Andrea Kiewel, die sich mehrfach der hochbezahlten Schleichwerbung für Weight Watchers schuldig gemacht, diesbezüglich in der Sendung ‚Johannes B. Kerner‘ den Moderator und das Publikum belogen hatte.
„Geschenkt ist geschenkt…“ und „Wiederholen“ (im Sinne von Zurückfordern) ist „verboten“
Dieses Sprichwort gilt keineswegs immer: Ein Beschenkter muss diesem Geschenk (§ 516 ff. BGB) nämlich auch gerecht werden. Wenn eine Ehefrau ihrem Mann zur Silbernen Hochzeit ein Auto, eine teure Uhr oder ein Ferienhaus schenkt, dieser sie jedoch anschließend betrügt, das Auto womöglich seiner jungen Freundin weiterschenkt oder sie im Ferienhaus wohnen lässt, kann sie diese Schenkungen widerrufen (§ 530 ff. BGB) und zurückfordern.
Der Jurist Dr. Ralf Höcker schreibt hierzu in seinem auch für juristische Laien lesenswerten „Lexikon der Rechtsirrtümer“ (Ullstein 2004, S. 31): „Dankbarkeit ist nicht nur eine moralische Pflicht. Wer sich undankbar zeigt, muss dafür unter Umständen teuer bezahlen.“
Dass zahlreiche Redewendungen und Sprichwörter nicht zutreffen, ist bekannt:
- „Was Hänschen nicht lernt…“, kann er sich durchaus auch in seinem späteren Leben noch aneignen.
- Zwar ist buchstäblich „noch kein Meister vom Himmel gefallen“; aber wir staunen über ‚Wunderkinder‘ von einst (Mozart) und dessen „Türkischen Marsch“ fehlerfrei spielende vierjährige Pianisten von heute.
- „Lügen haben“ nicht immer „kurze Beine“; mancher Politiker beruft sich mit Erfolg auf sein schlechtes Gedächtnis, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen.
Doch auch manche juristische Weisheit erweist sich bei näherem Hinsehen als veraltet, allenfalls als ‚Halb-Weisheit‘ – oder traf schon immer nicht zu.
Offenbar können wir immer noch etwas lernen, gleich, ob wir Juristen oder aber einfach nur an Recht versus Gerechtigkeit interessiert sind.