Diese bedrückende, uns vermeintlich schier berstende Gefühlsgemengelage kennen wir alle: unbändige Wut angesichts gefühlt erlittenen Unrechts – und eiskalte Ohnmacht angesichts einer (oft von uns nur subjektiv so empfunden) gleichgültigen staatlichen Verwaltung, die uns hier nicht helfen kann, nicht helfen will.
Ein erstes Beispiel: Den Opfern der Flutkatastrophe im Ahrtal versprach die Bundesregierung (noch unter der Kanzlerin Dr. Angela Merkel) unmittelbar großzügige Entschädigungen: „Am Jahrestag der Flut war [jedoch] nur ein kleiner Bruchteil der zugesagten 30 Milliarden € ausbezahlt worden.“ (wews.ORG) Zudem sind ideelle Werte unersetzbar, das in den 50er Jahren mühsam errichtete Häuschen, der über Jahre ersparte Mittelklassewagen, das von den Großeltern ererbte Klavier unwiederbringlich verloren – von den sage und schreibe 134 Todesopfern ganz zu schweigen: Großeltern, Familienangehörige, Freunde.
Zwar verjährt Mord laut § 78 StGB (allerdings erst) seit 1979 nie, auch nach Jahrzehnten nicht. Auch wenn sogenannte Cold Cases nicht ad acta gelegt werden: Irgendwann sind Täter wie die Hinterbliebenen der Opfer tot; diese sind schon froh, wenn wenigstens die Leichen ihrer Kinder, Eltern gefunden und identifiziert werden konnten.
Die meisten von uns finden sich irgendwann mit unserer Wut, unserem Schmerz ab: Das Leben muss schließlich weitergehen. Nur wenige entschließen sich, den oder die Täter auf eigene Faust und deren ‚Faustrecht‘ zu suchen oder den aus subjektiver Sicht zu milde bestraften bzw. seines Verbrechens nicht ausreichend überführten Täter gar selbst zu richten.
Selbstjustiz in der Literatur
Selbstjustiz: So nennen wir die Vergeltung für (gefühlt) erlittenes Unrecht, die dessen Opfer selbst ausübt und so zum Täter wird. Sie missachtet das Gewaltmonopol des Staates als die staatlichen Organen vorbehaltene Legitimation, physische Gewalt auszuüben oder zu legitimieren, z.B. ‚Unmittelbaren Zwang‘ auszuüben, die bis zur Erschießung als gefährlich erkannter (manchmal auch nur vermuteter) Straftäter führen kann. Selbstjustiz ist deshalb gesetzlich nicht zulässig, sondern strafbar.
Einige aufsehenerregende Fälle sind uns noch in Erinnerung:
- Marianne Bachmeier, die noch als Teenager ihre ersten beiden Kinder zur Adoption freigegeben hatte, erschoss 1981 im Gerichtssaal den mutmaßlichen, geständigen Mörder ihres dritten Kindes, der siebenjährigen Tochter Anna.
- Ein russischer Ingenieur erstach 2002 einen Fluglotsen, weil er ihn für die Flugzeugkollision von Überlingen verantwortlich machte, bei der seine Frau und ihre zwei Kinder ums Leben gekommen waren.
Beide realen Fälle wurden spektakulär verfilmt, der erste sogar jeweils 1984 zweimal:
- „Annas Mutter“ unter Regie von Burkhard Driest mit Gudrun Landgrebe in der Titelrolle;
- „Der Fall Bachmeier – Keine Zeit für Tränen“ unter Hark Bohm mit Marie Colbin.
- „Flug in die Nacht“ von 2009 mit Ken Duken als tragischer Protagonist ist „mehr als die Rekonstruktion einer Flugzeugkollision“, sondern ein „glänzendes Fernsehstück“ (SPIEGEL, 2009).
Realität und Fiktion gehen jeweils Hand in Hand.
Hier wollen wir uns in zwei Teilen aus literarischer, aber auch aus juristischer Sicht mit drei berühmten Fällen der deutschsprachigen und Weltliteratur befassen, die auf reale Ereignisse zurückgreifen (Fälle 1 und 2) bzw. von diesen inspiriert sind:
- mit Kleists Kriminalnovelle „Michael Kohlhaas“ (1810);
- mit Büchners Kriminaltragödie „Woyzeck“ (1836);
- mit Bölls Kriminalsatire „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ (1974).
Der thematische Zusammenhang ist evident: Der Täter ist selbst Opfer und rächt sich an der Gesellschaft.
Kleists Novelle, Büchners Drama und Bölls Roman ‚erzählen‘ als Prototypen der literarischen Trinität also nicht nur Kriminalgeschichten (bzw. stellen sie dar), sondern sind zugleich Existenzial-Tragödien, in denen die Protagonisten jeweils in ‚verkehrten Welten‘ der Willkür und Brutalität scheitern – und morden: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, so der Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno in ‚Minima Moralia‘ von 1949.
Reizvoll, zu beachten und zu berücksichtigen ist hierbei der Wandel der Rechtsprechung im Laufe von über zwei Jahrhunderten analog zu den drei Staatsformen:
- die Monarchie von 1815-1918;
- die instabile Demokratie der ‚Weimarer Republik‘ 1919-1933;
- die zerstörerische, einen Weltenbrand auslösende Diktatur 1933-1945;
- die westdeutsche Demokratie versus der ostdeutschen Diktatur des Kommunismus 1949-1990;
- die gesamtdeutsche, allerdings aktuell mehrdimensional bedrohte Demokratie.
Michael Kohlhaas (Kleist)
Die Handlung ist uns in groben Zügen bekannt, erinnerlich insbesondere der erste Satz, der eine rechtsphilosophische These in der Nähe eines Axioms andeutet: Kohlhaas sei „einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit“ gewesen.
Dass unter bestimmten Umständen, in lebensexistenziellen Ausnahmesituation jeder und jede zu einer (gefährlichen) Körperverletzung (mit Todesfolge), einem Totschlag, einem Mord fähig ist, bestätigt auch Prof. Dr. Anja Schiemann in ihrem Buch über Büchners Tragödie, den „Kriminalfall Woyzeck“ (Berlin 2017, S. 196): „Niemand ist frei von seinen Lebensumständen und es ist von vielfältigsten Einflüssen abhängig …, warum eine Person zu dem wird, was sie ist. Insofern kann auch heute noch… jeder zum Mörder werden.“
Die pädagogischen und juristischen Konsequenzen dieser Einsicht könnten die Kriminalpräventivstrategien revolutionieren: Wenn viele Täter nicht zum Verbrecher geboren werden, sondern erst durch ihre (subjektiv) unerträglichen Lebensumstände ihre kriminellen Charaktere entwickeln, wären sie (Michael Kohlhaas, Franz Woyzeck, Katharina Blum und in der Realität vielleicht sogar Ulrike Meinhof) zu ‚retten‘ gewesen, unter günstigeren Umständen (Wahrung der Gerechtigkeit und Menschenwürde, politische Stabilität in Freiheit und Unversehrtheit) nicht kriminell geworden. Hierzu später mehr!
Zur Handlung:
Junker Wenzel v. Tronka beschlagnahmt aus nichtigem Anlass zwei Pferde des Pferdehändler Kohlhaas, vernachlässigt sie und misshandelt dessen Knecht. Kohlhaas versucht vergeblich, sein Recht vor Gericht geltend zu machen; zwei Wachen verursachen den Tod seiner Frau – eine Körperverletzung mit Todesfolge, die heute zu einer Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren führt.
Die Constitutio Criminalis Carolina (die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V.) von 1532 sah als erstes allgemeines deutsches Strafgesetzbuch das Delikt der Körperverletzung nicht vor. Die Wachen wären damals straffrei davongekommen, hätten wohl auch wahrheitswidrig einen Angriff auf sie selbst behauptet, für sich Notwehr reklamiert.
Nun zettelt Kohlhaas einen Aufruhr an, brandschatzt und ist für den Tod Unschuldiger verantwortlich.
Kleist antizipiert hier die Vorgehensweise der RAF: Deren Täter säßen heute je nach Schwere ihrer Mitschuld mehrere Jahre bis ‚lebenslänglich‘.
Martin Luther erwirkt für Kohlhaas eine Amnestie beim Kurfürsten von Sachsen – gegen seinen Willen eine Falle: Kohlhaas wird gefangengenommen und zum Tode verurteilt. Kurz vor seiner Hinrichtung wird ethisch wie juristisch die Gerechtigkeit teilweise wiederhergestellt: Er erhält seine zwei Pferde in wiedergesundetem Zustand zurück. Der Junker kommt für zwei Jahre ins Gefängnis. Kohlhaas verschluckt vor den Augen des Kurfürsten von Brandenburg einen Zettel mit einer Prophezeiung, die diesen negativ betrifft. Der Kurfürst schlägt die beiden verwaisten Söhne zu Rittern und bestimmt, dass sie an einer Pagenschule erzogen werden. Ihnen „winkt der gesellschaftliche Aufstieg“ (‚Bücher, die man kennen muss‘, Mannheim 2011, S. 114).
Das ist sicher kein ‚Happy End‘, jedoch der leserfreundliche Abschluss einer Fast-Tragödie – ‚fast‘ deshalb, weil Kohlhaas durchaus Alternativen zu seinem apokalyptischen Amoklauf gehabt hätte.
Wenn Kleist schon zu Lebzeiten „auf Erden nicht zu helfen“ war (wie er 1811 in seinem Abschiedsbrief an seine Halbschwester Ulrike vor seinem erweiterten Suizid schrieb), so soll er wenigstens literarisch wie kulturell überleben – und als Musterbeispiel dafür, dass Selbstjustiz auch den Tätern schadet.
Woyzeck (Büchner)
Über Büchners Kriminaltragödie „Woyzeck“ hat Prof. Dr. Anja Schiemann ein auch für Nicht-Juristen verständliches und lesenswertes Buch geschrieben („Der Kriminalfall Woyzeck. Der historische Fall und Büchners Drama“, Berlin 2017), sodass ich mich kurzfassen kann.
Zur Handlung:
Der einfache Soldat Franz Woyzeck lebt am untersten Ende der sozialen Hierarchie. Nur seine Geliebte Marie und sein Kind geben ihm Halt. Er wird von seinen Vorgesetzten schikaniert, als Versuchsobjekt für medizinische Experimente missbraucht. Als seine Geliebte von einem Tambourmajor verführt wird, ermordet er sie.
Vorgesetzte wie der arrogante Hauptmann mit seinen konservativen Ansichten (z.B. zu Woyzecks nichtehelichem Kind) gibt es noch immer; juristisch ist ihnen schwer beizukommen, solange sie ihre Untergebenen nicht systematisch und sadistisch quälen bzw. eines der Körperverletzungsdelikte erfüllen.
Der etwa 2000 Jahre alte ‚Eid des Hippokrates‘ galt auch in der Epoche des Vormärz, dem und dessen revolutionärem Geist (Julirevolution von 1830 und Märzrevolution von 1848) sich der junge Autor verschrieben hatte.
Aus ihm leitet sich die 1948 verabschiedete und zuletzt 2017 modifizierte Genfer Deklaration des Weltärztebundes ab. Juristisch korreliert diese heute mit Art. 2 GG (dem Recht auf körperliche Unversehrtheit).
Den zynischen Arzt im Drama schützten damals seine pseudo-wissenschaftlichen Experimente; heute würde er laut § 5 und § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Bundesärzteordnung (BÄO) seine Approbation verlieren.
Die heutige Gesellschaft ist im Gegensatz zur starren Ständeordnung des 19. Jahrhunderts sozial durchlässig; ein gesellschaftlicher Aufstieg ist möglich. Woyzeck hingegen hatte keine Chance, diesem Teufelskreis aus sozialer Deprivation und Isolation, sich aus materieller Not stetig verschlechterndem Gesundheitszustand, verlorener Liebe und Eifersucht zu entkommen.
Während er damals des Mordes angeklagt und zum Tode verurteilt wurde, würden sich heute seine physische wie psychische Labilität und Schizophrenie vermutlich strafmildernd (§ 21 StGB) auswirken. Die Rechtsexpertin Prof. Dr. Anja Schiemann plädiert außerdem „nicht [für] Mord, sondern Totschlag“.
Was das Urteil zu Beginn des 19. Jahrhunderts betrifft, hätten diese differenzierenden Einschätzungen keinen Unterschied gemacht: Woyzeck wäre in jedem Fall zum Tode verurteilt worden.
Die anschließende Resozialisierung bleibt dennoch auch heute ein schwer zu bewältigendes Problem: Für einen verurteilten Mörder ist es fast unmöglich, eine Wohnung und Arbeit zu finden, eine Familie zu gründen und einen Freundeskreis aufzubauen. Hier sollte gesellschaftlich bei uns allen ein Umdenken einsetzen.