Laut § 18 des Jugendschutzgesetzes (JuSchG) gilt: „Medien, die geeignet sind, die Entwicklung von Kindern oder Jugendlichen … zu gefährden, sind von der Bundeszentrale … in eine … Liste jugendgefährdender Medien aufzunehmen. Dazu zählen … Medien …, in denen … Selbstjustiz als einzig bewährtes Mittel zur Durchsetzung der vermeintlichen Gerechtigkeit nahegelegt wird.“
Deshalb soll es in beiden Textteilen über die ‚Problematik der Selbstjustiz in der Literatur‘ ausschließlich um Medien (Bücher und Filme) gehen, die Gewalt in all ihren Ausprägungen (psychische wie physische, auch die Selbstjustiz) ablehnen, was ein Eingehen auf die Motive der Täter keineswegs ausschließt, im Gegenteil: Nur wer die Tat vollumfänglich ‚versteht‘ (d.h. nachvollzieht, nicht etwa gutheißt), kann sie gerecht beurteilen und ein angemessenes Strafmaß festsetzen.
Heinrich Böll
Mehrere Jahrzehnte lang galt Heinrich Böll nicht nur hierzulande, sondern auch international als einer der bedeutendsten Vertreter der Nachkriegsliteratur. Äußere Zeichen sind der 1972 verliehene Literaturnobelpreis, die lange Zeit hohen Buchauflagen sowie zahlreiche Kino- und Fernseh-Verfilmungen seiner Erzählungen und Romane für Fernsehen und Kino.
Diese sucht man heute in bundesdeutschen Buchhandlungen leider vergebens. Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki äußerte in einem Interview der WELT 2010 hierzu eine Vermutung: „Er ist weitgehend vergessen … Er hatte eine Nase für Themen, die den Deutschen auf den Fingern brannten. Aber nun ist Böll 25 Jahre tot. Heute sind ganz andere Themen aktuell, also wird der Abstand zu seinen Büchern und zu ihm unaufhaltsam immer größer.“
Die ‚Illustrierte Geschichte der deutschen Literatur‘ konstatiert (Band 3, 1998, S. 149): „Anders als [der damals noch lebende] Günter Grass wird der verstorbene Heinrich Böll heute … kaum noch wahrgenommen… Den einen gilt er als das unbeugsame moralische Gewissen der Nation, den anderen als Sympathisant der Terroristenszene…“ – seines umstrittenen, auch missverständlich formulierten Essays „Will Ulrike [Meinhof] Gnade oder freies Geleit?“ wegen, das sich auch heute noch als Verharmlosung der RAF liest.
Die verlorene Ehre der Katharina Blum
Zur Handlung: Die 27-jährige, bislang unbescholtene Haushälterin Katharina Blum hilft bei Empfängen und Festen aus, um sich ihren bescheidenen Wohlstand (Eigentumswohnung, Kleinwagen) leisten zu können. Bei einer Faschingsparty verliebt sie sich spontan in einen Bundeswehr-Deserteur, der sich in Tateinheit mit einem Diebstahl (des Wehrsolds für zwei Regimenter und einer Waffe) sowie einer Bilanzfälschung schuldig gemacht hat, jedoch weder ein Mörder noch ein ‚Terrorist‘ ist. Katharina nimmt ihn gegen ihre Gewohnheit mit zu sich nach Hause und verhilft ihm zur Flucht, so dass die polizeiliche Großfahndung zunächst scheitert.
Durch die oft (z.B. durch eine Nachricht in BILD von und vor der Hausdurchsuchung bei Böll am Tag der Verhaftung von Andreas Baader) auch real ‚erfolgreiche’ Zusammenarbeit zwischen der Kriminalpolizei und der Boulevardpresse gerät sie in den Fokus der (fiktiven) ZEITUNG, die sie auch bezüglich des flüchtigen (und von ihr in der Villa eines vergeblich in sie verliebten Industriellen, Universitätsprofessors und Parteimanagers versteckten) Geliebten diskriminierend als ‚Räuberliebchen‘ und ‚Mörderbraut‘ denunziert – bis sie der journalistischen Hetze und ihren Folgen nicht mehr gewachsen ist und den in seinen Methoden seinerseits jedenfalls aus ihrer Sicht ‚kriminellen‘ Reporter erschießt.
Für die ‚Fahnenflucht‘ (die eigenmächtige Abwesenheit) des Bundeswehr-Deserteur gilt § 15 des Wehrstrafgesetzes (WStG): „Wer eigenmächtig seine Truppe oder Dienststelle verlässt oder ihr fernbleibt und vorsätzlich oder fahrlässig länger als drei volle Kalendertage abwesend ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft.“
Hinzu kommen die Bilanzfälschung, für die § 283b StGB eine Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren oder eine Geldstrafe vorsieht, der Diebstahl mehrerer 1000 DM, der laut § 242
StGB mit einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe geahndet wird, und der unerlaubte Waffenbesitz in Tateinheit mit deren Entwendung, was laut 52 Abs. 1 Waffengesetzes (WaffG) zu einer weiteren Freiheitsstrafe von sechs Monaten führen könnte.
Diese drei Delikte hätten jedoch mit der nötigen Sorgfalt des zuständigen Personals, der Vorgesetzten und Kollegen des Täters, vereitelt werden können: Die für die Buchführung, den Wehrsold und die sichere Verwahrung von Waffen zuständigen Soldaten haben jedenfalls fahrlässig gehandelt; dies müssten die staatliche Gerichtsbarkeit, eventuell zudem ein Truppengericht der Bundeswehr entscheiden.
Die ‚Beihilfe zur Flucht‘, eine Strafvereitelung regelt § 258 StGB. Hier greift aber womöglich Absatz 6: „Wer die Tat zugunsten eines Angehörigen begeht, ist straffrei.“ Auch Verlobte sind ‚Angehörige‘; diesen Status könnte unser Liebespaar zumindest behaupten. Dies gilt auch für die Gewährung eines Unterschlupfs, selbst wenn dies hinter dem Rücken des eigentlichen Eigentümers, eines in Katharina verliebten Industriellen, geschieht, der ihr zur freien Verwendung und ohne Auflagen einen Schlüssel anvertraut hat. Wenn dies herauskommt, wird seine Karriere einen Knicks erleiden.
Katharinas Freund käme also anders als sie selbst mit einigen Jahren Gefängnis davon, von denen ihm bei guter Führung die Hälfte erlassen werden dürfte.
Sicher, prinzipiell überzieht die Satire in der Absicht, Missstände anzuprangern, und hält sich nicht an Lebensrealitäten. Legen wir diese dennoch an, so wäre die Ermordung des Sensationsjournalisten im Sinne einer Zukunft für die Liebe der Protagonisten vermeidbar, ja sinnwidrig gewesen, eben weil den Bundeswehrdeserteur und Dieb eine eher überschaubare Strafe erwartet hätte: Die allenfalls subjektiv bedrohte Wohnungseigentümerin hätte den Reporter notfalls (und allenfalls) mit Waffengewalt ihrer Wohnung verweisen und sodann wegen einer Verletzung ihre allgemeinen Persönlichkeitsrechts verklagen können.
atharina Blum, die bislang unbescholtene Bundesbürgerin wie aus dem Bilderbuch, hätte den Mord nicht begehen müssen. Dass Bölls Liebesgeschichten (und nicht nur seine) fast ausnahmslos tragisch enden, ist freilich dem jeweiligen Zeitgeist (der 50er bis 70er Jahre) und dem ‚Glücksverbot‘ der (damaligen) Moderne geschuldet: „Neben dem Verzicht auf Handlungsfülle hat der Roman einen weiteren Preis für seine ästhetische Anerkennung zahlen müssen: Harald Weinreich [Literaturwissenschaftler, Romanist, Essayist] hat einmal vom ‚Glücks- und Heldenverbot‘ gesprochen, das der moderne Roman sich auferlegt habe. Seitdem geht im Kopf des Lesers eine Warnlampe an…: ‚Vorsicht trivial!‘…“, stellt Volker Neuhaus zutreffend fest („Roman“, Köln 2008, S. 121).
Auch für das Überleben der Kriminalsatire und deren mindestens kongenialer gleichnamiger Verfilmung ist dieses drastische Ende notwendig.
Wenden wir uns nun der Schuld der ZEITUNG zu.
Die Pressefreiheit regelt Art. 5 GG. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht und das Postulat der Menschenwürde (Art. 2 i.V.m. Art. 1 GG) setzt der Meinungs- und Pressfreiheit allerdings Grenzen: „Da die Menschenwürde als Wurzel aller Grundrechte mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig ist, muss die Meinungsfreiheit stets zurücktreten, wenn eine Äußerung die Menschenwürde eines anderen verletzt.“ (Bundesverfassungsgericht 1 BvR362/18)
Die Sensationsberichterstattung der ZEITUNG haben Katharina Blums allgemeines Persönlichkeitsrecht und ihre Menschenwürde verletzt. Dies sind im Boulevardjournalismus keine Einzelfälle; doch zahlen dessen Medien gerne Schmerzensgeld und vom Deutschen Presserat auferlegte Strafen, sofern die erzielten Einnahmen diese übersteigen.
Hier ist aber auch der Leser gefragt: Wenn er die Sensations- und (jenseits der seriösen Tages- und Wochenzeitungen, der politischen Zeitschriften in den Niederungen des Boulevards durchaus existente) ‚Lügenpresse‘ boykottierte und sich für seriöse Medien entschiede, könnte er einen wertvollen humanitären Beitrag für unser aller ‚Recht und Freiheit‘ leisten.
Grundlagen der Differenzierungskompetenz (was inhaltlich wie sprachlich die Textqualität, Seriosität und Glaubwürdigkeit betrifft) sollten frühestmöglich in den Familien, in den Sozialisationsinstitutionen gelegt werden: im Kindergarten und in den Vereinen, aber auch in den Schulen, Hochschulen und Universitäten.
Sogenannt ‚schöngeistige‘, fiktionale und doch Lebensrealitäten widerspiegelnde Literatur für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, aller Gattungen (Epik, Dramatik, Lyrik) und Genres (Roman, Novelle, Kurzgeschichte / von der griechischen Tragödie Sophokles‘ über Brechts Episches Theater bis zu Jelineks Postdramatischem Theater / von Ovids ‚Metamorphosen‘ bis zu reimlosen sogenannt modernen ‚Gedichten‘ der Gegenwart) hat hier einen wesentlichen Beitrag zu leisten – nicht nur im Deutsch-, sondern auch im Geschichts-, Gemeinschaftskunde- und Ethikunterricht, nicht nur in Germanistik, sondern in Philosophie und insbesondere in Rechtswissenschaft.
Die Füße im Feuer (Meyer)
Unsere literaturjuristische Betrachtung sollte nicht mit Selbstjustiz, Mord und Totschlag, Hinrichtungen und Suizid, sondern mit einem beeindruckenden Gegenbeispiel enden: dem Verzicht auf Vergeltung aus ethisch-religiösen Motiven.
Die im Deutschunterricht heute leider nur noch selten Kriminal-, Helden-, Ideen- und religiöse Schicksalsballade „Die Füße im Feuer“ ist wohl der bedeutendste Text des Schweizer Dichters C. F. Meyer. Deren Handlung spielt nach der Aufhebung des ‚Ediktes von Nantes‘ (1595), welches den Protestanten in Frankreich (den ‚Hugenotten‘) Glaubensfreiheit zugesichert hatte. Durch den absolutistischen ‚Sonnenkönig‘ Ludwig XIV. wurden sie erneut verfolgt, u.a. in der euphemistisch sogenannten ‚Bartholomäusnacht‘.
Zur Handlung:
Ein königlicher Kurier fordert in einem Adelsschloss das Gastrecht, das ihm der Hausherr aus Nächstenliebe (nicht aus Gehorsam vor königlicher Autorität) gewährt. Die unheimlich-dunkle Stimmung drückt Trauer aus; offensichtlich wohnen hier Hugenotten, die noch vor drei Jahren verfolgt worden sind. Dem ‚Knecht des Königs‘ wird angesichts der vornehmen ‚braunen Ahnenbilder‘ bewusst, dass er damals die Frau des Schlossherrn bei einem Pogrom gefoltert hat, bis sie („die Füße im Feuer“) qualvoll starb.
Er empfindet angesichts seines sinnlosen Mordes keine Schuld oder Reue, sondern in seiner Schlafkammer lediglich Todesangst. Er überlebt die angsterfüllte Albtraumnacht; der im inneren Konflikt zwischen Rachedurst und Selbstbeherrschung über Nacht ergraute Schlossherr befiehlt ihm die sofortige Abreise.
Als der Kurier seinem Gastgeber für dessen vermeintliche Besonnenheit danken will, erteilt ihm der verwitwete Hugenotte eine Lehre, die der Kurier aufgrund seines begrenzten Horizonts nicht voll begreifen kann – er stellt klar, wer für ihn „größter König“ ist (nämlich nicht etwa Ludwig XIV., sondern Gott) und dass er auf seine fast übermenschliche Sehnsucht nach Rache zugunsten eben dieses Vertrauens auf göttliche Gerechtigkeit verzichtet habe: „Mein ist die Rache, redet Gott.“
Der Glaube an jenseitige Gerechtigkeit und die hieraus resultierende Passivität erscheinen uns heute naiv, die Vorstellung von einem Rache übenden Gott obsolet. Doch ist der Verzicht auf Vergeltung oft auch für das ehemalige Opfer besser als ‚Rache‘, die nur vordergründig, keineswegs nachhaltig befriedigt: Vielmehr führt sie wie in unseren Beispielen oft zu einer Eskalation, die nur Verlierer, keine Sieger hinterlässt.
Insofern ist Meyers Ballade heutzutage partiell auch gegen den Strich zu lesen: Es geht nicht um Rache, sondern um Vergebung und Versöhnung, im besten Fall um Wiedergutmachung vorigen Unrechts. Verzeihen wir so (und solange) wir können unseren Peinigern – auch um selbst Ruhe zu finden und unseren Frieden machen!