Das Fach der Rechtsgeschichte hatte in seinen Anfängen in der frühen Neuzeit mehr juristische als wirklich geschichtliche Etablierungsgründe. Die Idee nämlich, Rechtstexte oder generell Gesetze durch rechtshistorische Nachforschungen in der Gegenwart besser nachvollziehen zu können, war die für dieses Gebiet aufgebürdete Hauptaufgabe.[1] Der Rückgriff auf Geschichte war demnach nicht nur l’art pour l’art, sondern diente konkret der Analyse, Grundlagenförderung und Legitimation von der damaligen Gesetzeswirklichkeit.[2]
Erst im 20. Jahrhundert wurde die Rechtsgeschichte eine Art eigenständiger Fachbereich – nun auch mit „eigener“ Methodik und weitreichenderer Zielvorgabe – im Rahmen der Geschichtswissenschaft.[3] Diese gegenwartsbezogene Anwendung historischer Betrachtung deckt sich dabei teils mit dem geschichtsdidaktischen Prinzip „Gegenwartsbezug“, durch jenes das Fach Geschichte Schüler:innen und Studierende u.a. zum gegenwärtigen Nachdenken über Vergangenes anregen soll. Diesen Ansatz wollen wir in diesem Kurzaufsatz noch um ein weiteres Prinzip (Konfrontation mit der Andersartigkeit und Fremdverstehen) ergänzen, welches dazu anregen soll, das Fach Rechtsgeschichte aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Hierfür muss aber zunächst das Fach selbst und seine Hürden im Außenauftritt etwas mehr beleuchtet werden.
Was macht man in Rechtsgeschichte und wie betrifft es den Jurastudierenden?
Losgelöst vom Schulkontext flammt in manchen fachgeschichtlichen Abhandlungen[4] auch die Einschätzung auf, Geschichte in speziellen Fachbereichen (z.B. Rechtsgeschichte) sei als eine Art Sammelsurium von Einzelbetrachtungen herzunehmen.[5] Ein Beispiel hierfür wäre, dass man gezielt eine Situation aus der neueren Rechtsgeschichte herauspickt und sich fragt: Was können wir konkret aus dieser Situation ziehen und was lernen wir daraus?
Die Gefahr, die hier besteht, ist, dass man geschichtliche Ereignisse zu sehr nach Kategorien (politisch, sozial, etc.) in Schubladen ordnet und möglicherweise eher ins Anekdotische als ins Wissenschaftliche abdriftet. Manche Konstrukte aus vergangener Zeit sind nicht sauber auf heutige Thematiken anwendbar, da man viele neue Variablen hinzudenken muss. Daher ist auch der plumpe Ansatz, „Geschichte wiederhole sich, daher lernen wir Geschichte“ zu kurz gegriffen. Geschichte wiederholt sich nicht einfach und ist auch nicht dazu verdammt, wie in einem Loop wieder zu geschehen. Jedes Ereignis ist ein Konvolut an vielen Variablen, die letztlich auch immer einer neuen Bewertung unterworfen werden müssen. Das gewisse Muster aus der Geschichte herausgelesen und als Ansatz herhalten können, ist natürlich nicht ausgeschlossen, doch ein einfaches „das hätten wir durch die Geschichte kommen sehen müssen“ wäre zu simpel und zu absolut.
Im heutigen juristischen Fächerkanon ist dieses geschichtliche „Cherry-Picking“ für die Rechtsgeschichte nicht von Belang, da eher ein breites Wissen (Überblicks- und Vernetzungswissen) vorausgesetzt wird. So werden z.B. in den Grundlagen- und Schwerpunktklausuren oder in juristischen Seminararbeiten besondere Problemfelder (z.B. das Erbrecht im römischen Reich) methodisch untersucht, wobei die Quellenarbeit und die Urteilsfähigkeit im Mittelpunkt stehen und nur beiläufig Parallelen zum heutigen Erbrecht gezogen werden.
Lediglich dann, wenn Studierende das „Quartett von Savigny“ zur Auslegung von Gesetzestexten erlernen, ist ein solch fragmentarisches Entnehmen von geschichtlichen Betrachtungen noch von Wert. Auf der dritten Ebene, kurz vor der teleologischen Auslegung, ist nämlich die – für viele Studierende durchaus ungreifbare – historische Auslegung. Ungreifbar deshalb, da sie in juristischen Klausuren kaum zur Anwendung kommt. Lediglich in speziellen rechtsgeschichtlichen Arbeiten oder in Klausuren, in denen „alte Auszüge“ zu einem im Sachverhalt angesprochenen Gesetz dazu geliefert werden, ist eine historische Auslegung ohne Weiteres möglich.
Wozu ist Rechtsgeschichte im juristischen Fächerkanon gut?
Diese Frage haben wir schon vor einiger Zeit in einem anderen Aufsatz aufgearbeitet. In diesem haben wir – zur Verteidigung dieses doch recht wichtigen Gebiets – insgesamt drei relevante Existenzgründe herausgearbeitet:
- Jurastudierende sollten mit der Geschichte des Rechts aus Gründen der allgemeinen (Hochschul-)Bildung und der Freude an der Materie selbst[6] am Anfang in ihrem Studium konfrontiert werden.
- Insbesondere die neueste Rechtsgeschichte kann auch eine moralisch-ethische Komponente offenbaren, die auch zum kritischeren Denken anregt und dadurch der juristischen Karriere von immensem Wert sein kann.
- Der Blick in die Geschichte (römisches Recht, BGB-Geschichte, etc.) hilft dabei, das heutige deutsche Recht besser zu verstehen. Insbesondere dieser Punkt kann noch lerntechnisch untermauert werden, indem man die Elaboration mit ins Spiel bringt. Je mehr man sich mit einer Materie aus verschiedenen Blickrichtungen auseinandersetzt, sei es – wie in unserem Fall – durch klausurrelevante Fälle, Alltagssituationen oder eben durch einen Blick über den Tellerrand (geschichtliche Hintergründe?), desto mehr verinnerlicht man diesen Lerninhalt letztendlich auch. Eine hohe Anzahl an neuronalen Verknüpfungen hilft schlichtweg dabei, von verschiedenen Kanälen wieder darauf zuzugreifen.
Diese letztgenannte Idee des besseren Verständnisses und der teils auch künstlich hergestellten Verbindung zum Gegenwärtigen finden wir auch in etlichen anderen Fachbereichen, in denen Geschichte im Curriculum vorkommt: so auch in der Wirtschaftsgeschichte. Rolf Walter, ein bekannter Wirtschaftshistoriker, führt in seinem Buch bei seiner Legitimation der Wirtschaftsgeschichte an, dass die Auseinandersetzung mit Geschichte die Möglichkeit bietet, eine Perspektive durch Retroperspektive zu schaffen.[7] Dies kann dabei helfen, aus der Geschichte zu lernen, indem eine durch das Fach aufkommende Kursichtigkeit vermieden wird (mehr Perspektive, weniger Fehleranfälligkeit).[8] Dieser Legitimation geben wir gewiss keinen Abbruch. Auch in der (Rechts-)geschichte können wir – wie bereits oben angedeutet – Muster erkennen, die für weitere Erklärungsansätze verwendet werden können. Doch ist dieser doch herausragende Existenzgrund nicht die einzige Legitimation, obwohl genau dieser Eindruck oft auf Universitätsseiten vermittelt wird, wenn das Fach der Rechtsgeschichte schmackhaft gemacht werden soll.
Die Steinbruchtheorie als (frühere) Begründung für die Rechtsgeschichte?
Röhl schreibt 1994 in seinem Aufsatz „Wozu Rechtsgeschichte?“, dass „[die] Beibehaltung der Rechtsgeschichte als Pflichtfach der juristischen Ausbildung […] sich nur mit […] der Steinbruchtheorie begründen lässt.“[9]Hier meint er den Begründungssatz, dass die Rechtsgeschichte nur als Zwecküberlegung erklärt werden kann, sprich als Ansatz, der Geschichte nur als „direktes Lernen für das Heute“ verklärt (Perspektive durch Retroperspektive). Diese Ansicht ist – wie wir schon angedeutet haben – weit verbreitet und zunächst auch schlüssig. Doch die weiteren Ausführungen in seinem Fazit zeigen, dass die Rechtsgeschichte damals und mit Hinblick auf die weitere Entwicklung auch „heute“ als zusehends limitiert eingeschätzt wird. Röhl schreibt nämlich, dass „Privatrechtsgeschichte […] kaum vor der Kodifikation des BGB einzusetzen [braucht].“[10], „Strafrechtsgeschichte lohnt sich so gut wie gar nicht.“[11] und „Im übrigen genügen punktuelle historische Erklärungen […].“[12]Wichtig ist an dieser Stelle, dass wir im Rahmen des bereits schon überfüllten Curriculums des juristischen Studiums nicht sagen, dass dies nicht zu einer Entlastung führen würde, wenn die Rechtsgeschichte (oder sonstige Grundlagenfächer) nur auf dieses Prinzip reduziert wird. Doch die Rechtsgeschichte bietet aufgrund ihres großen Bruders, der Geschichtswissenschaft, immens mehr Potenzial für die Studierenden.
Es soll eben nicht nur darum gehen, so viel wie möglich zu vermitteln, sondern eher Relevantes in höherer Frequentierung nahezubringen. Daher ist dies auch keine direkte Kritik an Röhls Ausführungen aus den 1990ern, sie hatten in diesem Rahmen durchaus ihre Berechtigung, doch stülpen wir unsere Kritik generell über die Einschätzung, Geschichte sei nur eine Art Steinbruch für Fachstudien.
Die Auseinandersetzung mit dem „Andersartigen“
In der Geschichtsdidaktik ist neben dem Gegenwartsbezug auch das Prinzip der Multiperspektivität ein wichtiger Aspekt, wenn es darum geht, den Geschichtsunterricht in der Schule didaktisch-sinnvoll zu gestalten. Auch die heutige Rechtsgeschichte im Studium ist multiperspektivisch aufgebaut, da oft nicht nur eine Informationsquelle (z.B. ein Lehrbuch zu einem spezifischen Bereich) als Narrativ genutzt wird, sondern Thematiken aus verschiedenen Perspektiven und Zeiten betrachtet werden (z.B. mit mehreren zeitgenössischen wie auch späteren Primär- und Sekundärquellen). So muss im Rahmen der neueren Rechtsgeschichte für die Entwicklung des BGBs nicht nur die Entstehungsgeschichte vom Ausgangspunkt (erste und zweite Kommission) in den Blick genommen werden, sondern auch die Kritik von außen (so z.B. jene von Otto von Gierke), um eine umfassende, multiperspektivische Einschätzung zu gewinnen. Eine umfangreiche Multiperspektivität bringt in ihrem Kern auch Teilziele mit sich, wie die Alteritätserfahrung und das Fremdverstehen: für uns in diesem Fall eine Art Eintauchen in eine andere (vergangene) Welt.
Die Begegnung mit der Alterität, sprich der Andersartigkeit, ist eine Erfahrung, die eben nicht nur Schüler:innen, sondern auch Studierenden im Studiumsalter (17+) einen beträchtlichen Vorteil bringen kann. Nicht jeder Studierende wird die Möglichkeit haben, im Ausland zu studieren oder sich im größeren Stile während des Studiums näher mit internationalem, sprich „andersartigem Recht“, basierend auf anderen kulturellen Einflüssen, zu beschäftigen. Die Konfrontation mit anderen (rechtlichen) Kulturen, Sitten und Gewohnheiten ist daher auf das Eigenstudium oder eben auf die Grundlagenfächer, vorne dran die Rechtsgeschichte, begrenzt. Sollte es also Seminare geben, z.B. eines zur römischen Rechtsgeschichte, welches die kritische Quellenarbeit so weit auslegt, dass bei der Betrachtung von Gesetzesentwicklungen, andere kulturelle, religiöse oder soziale Aspekte speziell in den Mittelpunkt gestellt werden, kann dies dem Studierenden genauso umfangreich helfen wie eine Vorlesung zum Staatsorganisationsrecht. Die Schaffung von Perspektive ist demnach weiterhin ein ausschlaggebender Aspekt, nur mit dem feinen Unterschied, dass die Thematiken selbst nicht unbedingt mit der Gegenwart verglichen werden müssen (damals – heute). Vielmehr kommt die Prägung daher, dass die Konfrontation mit dem „Anderen“ grundsätzlich augenöffnend ist: Wie hat man damals gedacht? Kann ich dies nachvollziehen? Kann ich meine vielen Erkenntnisse zu einer Gesamtbetrachtung machen? Was sind die Hintergründe, die zu diesem Ereignis führten?
Hier ist aber nicht zu vergessen, dass die Studierenden sich auch gezielt darauf einlassen müssen. Eine umfangreiche Perspektivübernahme, die weitgehend „charakterprägend“ sein soll, funktioniert nur, wenn die Seminare einladend gestaltet sind (Bringschuld des Dozierenden), doch müssen die Studierenden es am Ende auch wollen und Neugier verspüren, in andere vergangene Welten einzutauchen (Bringschuld des Studierenden). Möchte man einfach nur die Klausur in Deutscher Rechtsgeschichte bestehen, indem man das Skript an zwei Tagen auswendig lernt, kommt es höchstwahrscheinlich zu keiner sinnvollen eintauchenden Perspektivübernahme. Die Seminare müssen – je nachdem wie es die Zeit hergibt – auf mehr Motivation bauen. Wie das geht, sah man 2018 an der Hamburger Universität im Rahmen eines historischen Moot Courts. Hier stellten Geschichtsstudierende vor, wie die Gerichtsverhandlung gegen die Cataliniariern aussehen hätte können.[13] Dies wäre auch für rechtsgeschichtliche Vorlesungen und Seminare denkbar: lernen durch (eintauchendes) Rollenspiel, wobei die „Andersartigkeit“ hautnah vermittelt wird.[14]
Die Begegnung mit dem „Fremden“
Die Begegnung mit dem Fremden (Fremdverstehen) andererseits ist nicht nur im Geschichtsunterricht zu finden, sondern auch in modernen Fremdsprachen (Englisch, Französisch, etc.).[15]
Da trifft es sich wohl gut, da seit jeher auch das Jurastudium als Sprachstudium verstanden wird. Letztlich ist aber die (Lern-)Einstellung jeweils eine andere. Bei dem einen geht es gezielt um Fachsprache (juristische Sprache) und beim anderen meist um einen allgemeinen Kommunikationskanal (Alltagssprache, etc.). Warum man nun das Prinzip des Fremdverstehens auf die juristische Sprache trotzdem übertragen kann, zeigt sich, wenn bspw. ein Auslandssemester in den Vereinigten Staaten getätigt wird. Hier nutzt man zunächst die Alltagssprache (in diesem Fall Englisch), die aktiv und passiv richtig angewandt wird. Dadurch fördert man seine interkulturelle Kompetenz, da die Möglichkeit, die Kultur durch die Expression der Sprache für sich selbst besser zu verstehen, jeden Tag aufs Neue gegeben ist.[16]
Aber man muss auch die englische juristische Fachsprache beinahe täglich verwenden. Diese ist durch das US-amerikanische Rechtssystem geprägt, welches sich wiederum aufgrund von Perspektiven aus vergangenen und heutigen Zeiten entwickelt hat.
Demnach soll nicht der Switch zwischen Kulturen und Sprachen, im Sinne eines „jetzt denke ich US-amerikanisch“, „jetzt denke ich britisch“, vermittelt werden, sondern lieber eine explizite Übernahme einer anderen Perspektive, die die eigene Perspektive nachhaltig erweitert (die eigene geprägte Perspektive hilft dann wiederum, weitere Perspektiven besser nachzuvollziehen, usw.). Man soll sich also nicht verstellen, sondern man soll sich auf ein reflektives Denken im Sinne eines interkulturellen Auseinandersetzens einlassen.[17]
Dieser kleine Exkurs soll zeigen, dass das Fremdverstehen nicht ein alleiniges Merkmal der Geschichtsdidaktik ist und daher auch im Rahmen zweier verschiedener Kanäle (Sprache und Kultur) auf die Rechtsgeschichte bzw. das juristische Studium angewandt werden kann. Für den „Kulturkanal“ in der Rechtsgeschichte ist jedoch eine weitere Hürde von großer Bedeutung: diachrones Fremdverstehen (wir heute, sie damals). Wie es Andreas Körber prägnant auf den Punkt bringt: „[Bei diachronem Fremdverstehen] müssen die Selbst- und Fremdbilder mit Hilfe der historischen Methode erschlossen werden.“[18]Die Gelegenheit, die Mitglieder der zweiten BGB-Kommission zu befragen, warum sie jene Entscheidungen getroffen haben, wird es leider nie mehr geben. Auch können wir Sextus Pomponius aus dem 2 Jh. n. Chr. nicht mehr interviewen, warum er als einziger eine umfangreiche Geschichtsabhandlung zur römischen Rechtsgeschichte verfasst hat. Man merkt also, dass die (subjektive) Verifizierung von Aussagen in der Rechtsgeschichte begrenzt ist, doch das Handwerk (historische Methodik), welches zur Beantwortung dieser Fragen ausgeübt werden muss, hilft ungemein, den eigenen Horizont zu erweitern. Man betreibt – plump ausgedrückt – geschichtliche Psychologie und Soziologie: die Tendenz und der Horizont des Verfassenden steht dabei im Mittelpunkt.
Interessant ist auch, dass es vollkommen irrelevant ist, ob die Kultur nun fremd im Sinne von „weit weg“ ist oder nicht. Bereits das Zurückblicken von einigen Jahrzehnten reicht aus, um eine Andersartigkeit und Fremdheit in den Quellen zu spüren.
Genau dieses Gefühl sollte man in der Rechtsgeschichte anstreben. Aufgrund dieses Umstandes sind wir auch nicht vollumfänglich mit den Aussagen Röhls von 1994 einverstanden. Es ist zwar richtig, dass es keinen Sinn ergibt, wenn man nur nach der Steinbruchtheorie geht und den Gegenwartsbezug über alles stellt, sich mit antiker Rechtsgeschichte oder dem mittelalterlichen Strafrecht zu befassen. Wolle man aber bewusst die Andersartigkeit und Fremdheit in jener vergangenen Welt verstehen, nachvollziehen und beurteilen, dann ist eine Auseinandersetzung mit genau diesen Epochen alternativlos.
Die mittelalterliche Strafrechtsgeschichte bspw. ist durch die Anwendung der Peinlichen Befragung (nicht als Strafe, sondern zur „Wahrheitsfindung“) ab dem Spätmittelalter ein relevantes Feld zur Untersuchung: Warum fanden die Menschen es damals notwendig, dies zu tun? (Sachurteil) Gab es bereits Stimmen dagegen? (Sachurteil) Wie konnte man Menschen so etwas antun und gleichzeitig denken, dass es legitim ist? (Werturteil). Bereits bei diesen Fragen merkt man, wie intensiv man als Studierender mit der Andersartigkeit und Fremdheit konfrontiert wird. Zwar kann man hier auch einen reinen Gegenwartsbezug betreiben (denn leider wird auch heute noch in manchen Ländern gefoltert…), doch ist das Eintauchen in eine fremde Welt mit Hilfe einer (emphatischen[19]) Perspektivübernahme ein nachhaltigerer Lerneffekt.
Fazit: Mehr bewusstes Eintauchen in andere Welten, weniger zwanghaftes Lernen aus der Vergangenheit
Unser Ansatz ist nicht, dass der Gegenwartsbezug und das „Lernen aus der Geschichte“ keinen Mehrwert bieten. Dem ist ganz und gar nicht so. Diese Prinzipien werden auch weiterhin als eine relevante Legitimation für die Rechtsgeschichte im juristischen Fächerkanon dienen. Unser Ansatz ist es eher, dass wir der Rechtsgeschichte einen neuen didaktischen Anstrich geben möchten. Die Rechtsgeschichte ist eben nicht nur ein juristisches Fach von vielen, sondern ein Fachgebiet, das sich sehr von den anderen juristischen Gebieten unterscheidet. Nicht unbedingt wegen des Inhalts, sondern wegen der methodischen Vorgehensweise (Quellenkritik, -interpretation, Perspektivübernahme, Beurteilung, etc.). Der Studierende wird also mit einem neuen Set an handwerklichen Tools ausgestattet. Diese handwerklichen Werkzeuge sollen aber nicht nur dahinführen, dass der Studierende einen rechtsgeschichtlichen Fall analysiert und dann auf das „heute“ eins zu eins anwendet. Sie sollen eher eine ganzheitliche und nachhaltige Verbesserung für das eigene kritische Denken und Reflektieren vermitteln. Dies wird aber nur dann ermöglicht, wenn die rechtsgeschichtlichen Seminare und ggf. Vorlesungen auf die Prinzipien „Konfrontation mit Andersartigkeit“ und „Fremdverstehen“ setzen. Die Studierenden sollen die Gelegenheit haben, sich (emphatisch) in andere vergangene Welten hineinzuversetzen (durch Diskussionsgruppen, Rollenspiele, Projekte, (sehr) kritische Quellenbesprechungen, etc.), jene aus verschiedenen Blickrichtungen zu beurteilen und ggf. eine umfangreiche Horizonterweiterung zu erhalten (die Menschen dachten damals so, warum war das so?).
Dadurch können bei den Studierenden Fähigkeiten hervorgebracht werden, die zuvorderst während Auslandssemestern und (fremdsprachigen) Moot Courts trainiert werden. Sollten aber solche Angebote nicht genutzt werden (können), ist ein Ausweichen auf rechtsgeschichtliche Seminare, die gezielt „in die Vergangenheit eintauchen“, ein adäquater Ersatz.
[1] Vgl. Röhl 1994, S. 177, mit Bezug auf eine Aussage Wieackers.
[2] Vgl. Stolleis 2012, S. 79f u. Röhl 1994, S. 177.
[3] Vgl. Stolleis 2012, S. 79f.
[4] In einem älteren Aufsatz bei Röhl mit der „Steinbruchtheorie“, vgl. Röhl 1994, S. 174.
[5] Mit speziellem Blick auf Savigny, vgl. Röhl 1994, S. 174f.
[6] Vgl. Kocka 1990, S. 440f.
[7] Vgl. Walter 2011, S. 19.
[8] Ebd.
[9] Röhl 1994, S. 178.
[10] Ebd.
[11] Ebd.
[12] Ebd.
[13] S. Universität Hamburg 2018, URL: https://www.geschichte.uni-hamburg.de/arbeitsbereiche/alte-geschichte/arbeitsbereich/aktuelles/2018-07-03-mootcourt2018.html.
[14] Anzumerken ist, dass dies natürlich immer noch nur eine Art „Darstellung“ bleibt. Zwar beruhen solche Rollenspiele auf echten Quellen. Letztlich muss aber in die Umsetzung selbst auch viel Interpretation (neue Narrative) fließen, was die Wirklichkeit verzerren kann.
[15] Vgl. Körber 2012, S. 1. URL: https://www.pedocs.de/volltexte/2012/5849/pdf/Koerber_2012_Fremdverstehen_und_Perspektivitaet_D_A.pdf.
[16] Ebd.
[17] An dieser Stelle sei angemerkt, dass bei einem einjährigen LL.M. im Ausland nicht unbedingt ein vollumfängliches Verständnis des dortigen Rechts erwartet wird. Vielmehr geht es um das Beherrschen der Sprache (Alltagssprache, Legalese) und der reflektiven Perspektivübernahme.
[18] Körber 2012, S. 3.
[19] Letztlich kann man nur versuchen, sich mit seinen eigenen (Angst-, Verzicht, etc.-)Erfahrungen in die Gefühlswelt anderer hineinzuversetzen. Die Fremdheit muss zwar vertraut gemacht werden, doch können wir nicht eins zu eins in Gefühlswelten eines Menschen aus der Vergangenheit eintauchen, da wir wahrscheinlich nie diese Art von Angst oder Verzicht erleben werden, vgl. hierzu Brauer/Lücke 2021, S. 13.