„Morgen ist auch noch ein Tag“ – Ein Film der Brücken zwischen gestern und heute schlägt

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Barbie oder Oppenheimer? Das war 2023 die wohl meistgestellte Frage unter Cineast:innen. In Italien schickte sich jedoch das Regiedebüt von Paola Cortellesi an, die Herzen ihrer Landsleute im Sturm zu erobern: “Morgen ist auch noch ein Tag”, im Original „C’è ancora domani“, wurde dort zum erfolgreichsten Film des Jahres und lockte 5,4 Millionen Zuschauer:innen in die Kinos. Doch wie konnte das der gebürtigen Römerin gelingen? Themen wie Feminismus und Gewalt gegen Frauen sind nicht gerade Garanten für Publikumserfolge.

In den rund zwei Stunden des Films folgen die Zuschauer:innen in stimmigen schwarz-weiß Bildern der von Cortellesi selbst dargestellten Protagonistin Delia Santucci durch das Rom der Nachkriegszeit im Mai 1946. Dort lebt sie in einer bescheidenen Wohnung mit ihrem gewalttätigen und tyrannischen Ehemann Ivano, ihrem nicht minder herrschsüchtigen Schwiegervater und den drei Kindern Marcella, Sergio und Franchino. Ihr Alltag ist geprägt von harter Arbeit, vielen Entbehrungen und dem Jähzorn ihres Gatten. Einzige Erleichterung verschaffen kurze Pausen, in denen sie ihre Freundin Marisa, eine Gemüsehändlerin, auf eine Zigarette trifft oder auf ihre Jugendliebe, den Mechaniker Nino, stößt.

Dann macht der Sohn des wohlhabenden Bar-Besitzers Moretti Marcella den Hof, während Delia von Nino das Angebot erhält, mit ihm in den Norden durchzubrennen. Die Mutter wird vor die Frage gestellt, wie ihre und auch die Zukunft ihrer Tochter aussehen soll.

Keine Angst vor komplexen Inhalten

Der Film ist auch deshalb ein Kassenschlager geworden, weil er auf so vielen Ebenen funktioniert. Seien es die namhaften Darsteller wie Valerio Mastandrea, der bisweilen moderne Soundtrack oder das Drehbuch, das immer wieder zwischen Drama und Komik pendelt, alles ist aufeinander abgestimmt und reißt einen mit.

Im Zentrum des Films stehen vor allem die Frauen. Sie sind es, denen man in ihrem Alltag folgt. Die Zuschauer:innen begegnet Haushälterinnen und Zugehfrauen in wohlsituierten Haushalten; Witwen, die alleine das Geschäft ihres Mannes weiterführen; Marktbeschickerinnen; primär aber Delia und Marcella. Cortellesi hat sich dabei von den Geschichten ihrer Mutter und Großmutter inspirieren lassen, als sie plante, einen Film über Frauenrechte zu drehen. Männer kommen selten vor und wenn man ihnen begegnet, dann sind sie es, die als „Störfaktoren“ agieren, von denen das Wohl und Wehe der Protagonistinnen abhängt.

Delias Tage bestehen von früh bis spät aus Arbeit: Sie putzt, kocht, wäscht, versorgt die Kinder, pflegt ihren Schwiegervater, repariert Dinge im Haushalt und als Nebenverdienst auch Schirme, sie organisiert, läuft von A nach B quer durch die Stadt für ein paar Lire und trägt mit verschiedenen Jobs zum Unterhalt der Familie und ihrem geheimen Geldvorrat bei.

Keine Berührungsängste mit dem Thema Gewalt

Ihr Leben ist aber auch geprägt von physischer und psychischer Gewalt. Ivano bestimmt, wann sie das Haus verlassen darf, glänzt selbst aber durch Abwesenheit, da er seine Zeit nach der Arbeit häufig dem Alkohol und Kartenspiel widmet.

Dass Cortellesi keine Berührungsängste mit dem Thema Gewalt hat, beweisen direkt die ersten Sekunden des Films: Als Delia morgens aufwacht, wird sie innerhalb von Sekunden ohne Vorwarnung von ihrem Mann geohrfeigt.

Die Gewalt, die hinter verschlossenen Türen stattfindet, wird besonders durch die Wohnumstände der Familie betont. Die Souterrainwohnung als Dreh- und Angelpunkt für die Ausbrüche des Ehemannes hat etwas Beklemmendes. Eine Falle, der man auch als Zuschauer nicht entkommen kann. Und so wird für Delia in einer Szene der Gewaltexzess ihres Mannes zu einer bizarren Kombination aus Tanz und Schlägen. Begleitet wird dies alles durch eine Version des Liedes „Nessuno“, das von der ewigen Liebe, die nicht mal vom Schicksal getrennt werden kann, spricht.

Gleichmut diesen Ausbrüchen gegenüber macht Marcella, Delias ältestes Kind, ihr zum Vorwurf. Die Antwort der Mutter beschränkt sich darauf, dass der Vater doch an zwei Kriegen teilgenommen habe. Die Regisseurin sieht darin einen Erklärungsansatz für eine „verlorene Generation“ an Männern, aber keine Entschuldigung für ihr Verhalten, wie sie im Rahmen eines Interviews erklärte. Es sei so viel verraten, dass Delia den Mut, den sie für sich nicht aufbringen kann, sehr wohl aber findet, als es eines Tages um ihre Tochter geht. Es ist das heimliche Agieren der Protagonistin, das einen nachdenklich werden lässt, welche verborgenen Opfer auch die eigenen weiblichen Familienangehörigen erbracht haben, um der nächsten Generation mehr Freiheit zu ermöglichen.

Premiere für Frauen an der Wahlurne

Die historische Rahmenhandlung von „Morgen ist auch noch ein Tag“ bildet dabei das Referendum vom 2. und 3. Juni 1946, als es in der Hand der Italiener und erstmals auch Italienerinnen lag, sowohl die konstituierende Versammlung als auch die zukünftige Staatsform des Bel Paese zu wählen.

Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den meisten nordeuropäischen Ländern das Wahlrecht für Frauen eingeführt wurde, kam es in den südeuropäischen Ländern zum Großteil erst gegen Ende des 2. Weltkrieges dazu. So auch in Italien, wo antifaschistische Frauengruppen massiv dieses einforderten. Seit dem 1. Februar 1945 steht ihnen ein aktives und passives Wahlrecht zu.

Diese so einschneidende Neuerung schleicht sich langsam in die Handlung des Films. So kann man als aufmerksame:r Zuschauer:in zunächst im Hintergrund an Mauern Wahlaufrufe für die Monarchie bzw. die Republik finden. Offene politische Debatten sucht man innerhalb der Familie Santucci vergebens. Ihr Leben ist weit entfernt von Politik und für die weiblichen Mitglieder auch von eigenen Entscheidungen. Gerade dadurch verleiht Cortellesis Geschichte dem historischen ersten Gang an die Urne so ein Gewicht. Freiheit wird plötzlich von außen an Delia herangetragen und nimmt Einfluss auf ihr Leben.

Mehr als nur ein Drama

Der Regisseurin gelingt es aber bei aller Schwere auch komische Momente einzustreuen. Gerade Emanuela Fanelli als Freundin Marisa und Vinicio Marchioni als Nino sorgen für den nötigen „Comic Relief“. Es wäre also falsch, den Film nur als Drama abzutun, weil er dafür viel zu kurzweilig und unterhaltsam ist.

Besonders erwähnt sei auch die Musikauswahl der Filmemacherin. Zu Liedern der Nachkriegszeit gesellen sich auch aktuelle Stücke wie „B.O.B.“ von Outkast oder das 2013 erschienene „Bocca Chiusa“ von Daniele Silvestri. Diese stehen in starkem Kontrast zu den schwarz-weiß Bildern und den Kulissen des Jahres 1946 und dennoch in den Szenen genau passend sind, da sie eine Brücke zwischen gestern und heute schlagen.

Letzteres Lied ist es auch, das das Finale des Films besonders eindrücklich macht und unterstreicht, dass wer einmal seine Stimme gefunden hat, sich diese nicht mehr verbieten lässt und wenn er mit einem „bocca chiusa“, einem geschlossenen Mund, sich artikulieren muss.

Mehr als nur ein Abbild der Zeit

Wer nun denkt, Cortellesi habe eine reine Momentaufnahme von 1946 drehen wollen, irrt. So erklärt sie selbst ihr Debüt als zeitgenössisch: „Toxisch familiäre Dynamiken sind nicht mit der Zeit verschwunden. Ökonomische, verbale, psychische und physische Gewalt existieren und wir lesen häufig darüber.“

Wie Recht sie damit hat, beweist ein Femizid wenige Tage nach Kinostart im November 2023, der Italien nachdrücklich erschütterte. Die 22-jährige Studentin Giulia Cecchettin wurde von ihrem Ex- Freund durch mindestens 20 Messerstiche getötet. Vor allem der Aufruf der Schwester des Opfers, keine Schweigeminute, sondern eine „Minute des Lärms“ für ihre Schwester abzuhalten, brachte viele Italiener:innen auf die Straße, um dieser Bitte nachzukommen und ihrer Betroffenheit Ausdruck zu verleihen.

Auch die Regisseurin engagierte sich kürzlich für die Stiftung Una.Nessuna.Centomila und trat in einem Video mit verschiedenen italienischen Stars aus Musik und Film unter dem Slogan „Se io non voglio tu non puoi“ (Wenn ich nicht will, dann kannst du nicht) auf.

Ein Blick auf die Zahlen verrät, dass es solcher Initiativen bedarf: Im Schnitt wird jeden dritten Tag in Italien ein Femizid begangen. Damit sind die Zahlen ähnlich wie in Deutschland.

Femizide auch im heutigen Italien an der Tagesordnung

Und auch wenn das Land sich im Laufe der Zeit z.B. 1968 von der Strafbarkeit des Ehebruchs durch die Frau oder 1981 von der „Matrimonio Riparatore“, kurzgefasst der Möglichkeit, dass ein Vergewaltiger straffrei bleibt, wenn er sein Opfer heiratet, verabschiedet hat, ist es noch weiterhin vom Machismo geprägt.

Was aber durchaus anders ist, ist das mediale Interesse. Femizide werden oftmals als solche bezeichnet und die Repubblica, eine der größten Tageszeitungen Italiens, hat online eine Seite extra diesen Opfern gewidmet. Kacheln mit kurzen Steckbriefen verlinken zu den Presseberichten, die häufig die vollen Namen nennen und auch Fotos der Frauen beinhalten.

Anfang Dezember wurde der Mörder Cecchettins zu einer Haftstrafe verurteilt. Ihr Vater sagte daraufhin, dass diese Art von Gewalt nicht mit Strafen bekämpft werden kann, sondern mit Prävention. Vielleicht kann ein Blick zurück in die Geschichte in Form von Paola Cortellesis Film ebenfalls einen kleinen Beitrag dazu leisten.

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Ann-Kathrin Bücker
Ann-Kathrin Bücker
Die Autorin studiert Rechtswissenschaften in Münster und bereitetet sich gerade auf ihr 1. Staatsexamen vor. In ihrer Freizeit schaut sie gerne Filme und Serien oder reist durch ihr Lieblingsland Italien.

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