Liest man in den Kommentierungen zu BGB, StGB oder GG begegnen einem oft kuriose Dinge. So beispielsweise in einer alten Ausgabe des „Palandt“ (heute Grüneberg) zu § 138 BGB (Sittenwidrigkeit). Darin werden Ostdeutsche neben „Behinderten“ als Beispiele für geschäftlich Unerfahrene aufgezählt. Wie kam es dazu?
§ 138 BGB regelt, dass ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, nichtig ist. Das ist dann der Fall, wenn das Rechtsgeschäft dem „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden widerspricht“. Maßgeblich ist dabei der moralische Mindeststandard, der in der Gesellschaft vorherrscht. Dieser kann sich mit der Zeit wandeln. Durch § 138 BGB wird die Vertragsfreiheit (Privatautonomie) eingeschränkt. Unsittliches und allgemein missbilligtes Verhalten soll also nicht mit den Mitteln des Rechts erzwingbar sein.
Auslegungsbedürftige Generalklausel
Da es sich bei den „guten Sitten“ um eine auslegungsbedürftige Generalklausel handelt, ist es gar nicht so einfach, festzulegen, was “sittenwidrig” ist. Daher wurden durch die Gerichte verschiedene Fallgruppen herausgearbeitet. Wer unter § 138 BGB subsumieren möchte, wird diese also üblicherweise in einem Kommentar nachschlagen. Der Palandt listet unter dem Stichwort „Unerfahrenheit“ verschiedene Personengruppen auf, die besonders unerfahren sind. Darin heißt es:
„Unerfahrenheit ist ein Mangel an Lebens- oder GeschErfahrg (ja, der Palandt kürzt alles ab). Sie kann insb. Bei Jugendl., Alten od. geistig Beschränkten, aber auch bei Bürgern der neuen Bundesländer od. Aussiedlern gegeben sein.“
Diese Auflistung haben die Kommentator:innen des Palandt jetzt aber natürlich nicht selbst „erfunden“. Die genannten Gruppen werden jeweils mit Gerichtsentscheidungen belegt. Für die „Bürger der neuen Bundesländer“ wird BGH NJW 94, 1476 genannt.
Worum ging es in dieser Entscheidung?
Ein Immobilienmakler hatte einen Mann aus Ostdeutschland auf Zahlung von 64.000 DM verklagt. Zuvor hatte der Mann den Makler in einem Maklervertrag damit beauftragt, ein Geschäftshaus zu einem Verkaufspreis von 200.000 DM zu vermitteln. Dabei wusste der Immobilienmakler bereits vorab, dass der Eigentümer des Nachbargrundstücks wegen des erforderlichen Zugangs zu seinem eigenen Grundstück einen hohen Preis für das streitgegenständliche Grundstück zahlen werde. Nämlich 450.000 Euro. Aus dieser Summe verlangte der Immobilienmakler dann auch seine (hohe) Maklerprovision.
Der BGH urteilte, dass die Vergütungsabrede gegen die guten Sitten verstoße und nach § 138 BGB nichtig sei.
Der Makler müsse im vorliegenden Fall besondere Gründe dafür darlegen, dass ein auffälliges Missverhältnis bei dem Vertrag nicht gegeben sei, wenn die geforderte Provision das Mehrfache der üblichen Provision betrage. Denn dann könne sein Geschäftspartner kaum noch als Herr des Geschäftes angesehen werden.
Unerfahrenheit des Geschäftspartners
Hier konnte der Makler sicher sein, aufgrund des Nachbarn mit der von ihm geforderten Vergütung eine außergewöhnlich hohe Provision zu verdienen. Seine Vergütungsvereinbarung ermöglichte ihm, von dem Verkäufer des Grundstücks mehr als das Achtfache der einfachen Verkäuferprovision und immer noch mehr als das Vierfache der Doppelmaklerprovision zu fordern. Dieses auffällige Missverhältnis mache den Maklervertrag laut BGH sittenwidrig.
Hinzu komme als weiterer Grund für die Sittenwidrigkeit aber außerdem die Unerfahrenheit des Geschäftspartners:
„Der Kläger hat in der Zeit bald nach dem Beitritt der neuen Bundesländer die offensichtliche Unerfahrenheit des dort wohnhaften Beklagten auf dem Immobilienmarkt zu übersteigertem Gewinnstreben ausgenutzt“, so heißt es in der Entscheidung (BGH, Urt. v. 16.02.1994, Az. IV ZR 35/93.