Manchen Menschen fliegt im Jurastudium alles zu. Von Anfang an. Dauerhaft. Das sind die Leute, die wir gelegentlich im Hörsaal treffen (und deren Gesellschaft wir instinktiv suchen oder meiden). Wir übrigen 97 % müssen die eine oder andere Hürde überkrabbeln, bis es halbwegs läuft. Besonders ganz am Anfang. Einige Hürden sind ziemlich individuell, andere kennt so gut wie jeder. Eine, die gefühlt (nicht: gezählt) die größere Hälfte der Anfänger überwinden muss, hat sogar einen Namen:
„Ich kenne die richtige Lösung schon“
Das klingt eher harmlos – und passiert im Kopf immer mal wieder, wenn der Dozent im Kurs gerade einen Beispielsfall zur Diskussion stellt, den man so oder so ähnlich schon im Lehrbuch oder im Skript gelesen oder im Tutorium auf dem Tisch gehabt hat.
Ungeachtet der Alltäglichkeit dieser Erfahrung kann man damit kaum vorsichtig genug sein. Aus mindestens vier Gründen.
1. Gibt es überhaupt „Lösungen“?
Abgesehen davon, dass man mit gutem Grund bezweifeln kann, ob eigentlich Rechts-„Fälle“ „Lösungen“ haben (vielleicht spräche man besser von Rechts-„Konflikten“, „-problemen“ oder „-fragen“ und von „Entscheidungen“ oder „Antworten“) bringt dieser kleine Satz eine Haltung auf den Punkt, die nicht nur Anfängern das Leben ziemlich schwer machen kann. Die Eindeutigkeit, die „Lösung“ suggeriert, ist im Recht – anders als im Rätsel oder im Krimi oder in der Mathematikaufgabe in der Schule – schwer zu haben, vielleicht gar nicht. Man tut daher gut daran, sich das Wort „Lösung“ weitgehend abzugewöhnen. Vielleicht ist es besser, vom „Ergebnis“ zu sprechen (und zu denken). Das lässt mehrere Ergebnisse als begründbar, als potenziell „richtig“ zu – und lenkt so den Blick auf den Zusammenhang zwischen Ergebnis und Begründung.
2. Begründungen sind wichtiger als Ergebnisse
Ergebnis und Begründung verhalten sich, grob vereinfacht, zueinander wie 1 zu 3. (Das gilt übrigens wirklich auch oft für die Punkteverteilung in der Übungs- und Prüfungsarbeit. Nicht zufällig.) Wer also das „richtige“ Ergebnis kennt und zu Papier bringt, bekommt einen Punkt. Wer das „richtige“ Ergebnis sauber in einem Gutachten herleitet und zu Papier bringt, bekommt vier Punkte. Vergisst man das Ergebnis, verliert man einen Punkt; vergisst man die Begründung, verliert man drei Punkte. Kommt man zum „falschen“ Ergebnis mit ordentlicher Begründung, winken immer noch drei Punkte. (Die Zahlen können variieren.)
Wer beim Sich-Hineindenken in eine neue Rechtsmaterie also die meisten Aufgaben blitzschnell gedanklich erledigt, weil er „die Lösung schon kennt“ (aus früherer Befassung mit dem Thema, aus rechtlicher Allgemeinbildung, durch Lehrbuch- oder Fallbuchlektüre), schießt sich leicht ins Knie. Mit dieser Gewissheit, die zudem nicht ganz selten trügt, verstellt man sich den Blick auf das Wesentliche, nämlich die Begründung.
Es mag sein, dass die „richtige“ Entscheidung im Vergleich zur „richtigen“ Begründung nach dem Ende Ihres Studiums an Bedeutung gewinnt. Na klar, manchmal genügt für eine professionelle Rechtsauskunft das „richtige“ Ergebnis, und dem Fragenden kommt es auf die Begründung dahinter kaum oder gar nicht an, Hauptsache, der Rechtsberater kennt und reproduziert die herrschende Meinung. Aber nicht ganz zufällig müssen die meisten Urteile und Verwaltungsakte begründet werden – auch für Gesetze gibt es regelmäßig eine Begründung. Wer also im Studium lernen will oder muss, wie man überzeugende Entscheidungen trifft, obwohl von diesen wenigstens einer der Beteiligten enttäuscht wird, kann sich mit Ergebnissen allein nicht zufriedengeben.
Und wer, gerade am Anfang, mühsam lernt, was ein Gutachten sei und warum man es im Gutachtenstil zu verfassen habe, sollte sowieso den Fokus vom Ergebnis auf die Begründung verschieben. Denn Ergebnisse raushauen kann jeder; sie anständig zu begründen müssen die meisten Leute noch lernen.
3. Was heißt überhaupt „richtig“?
Am wichtigsten ist es, sich klarzumachen, dass „richtig“ und „falsch“ ganz oft sehr relativen Charakter haben. Sich eine klare Unterscheidung in schwarz und weiß, gut und böse, richtig und falsch vorzustellen, ist zwar naheliegend, aber nicht immer hilfreich.
Die Probleme, mit denen man sich Jura studierend befasst, haben zwar oft eine „Lösung“, die als „richtig“ gelten kann, weil das Gesetz oder die (derzeit) herrschende Meinung das so vorgeben. Daneben gibt es aber in aller Regel andere Entscheidungsansätze.
Was hier richtig ist, ist in der Rechtsordnung eines Nachbarstaats falsch – und umgekehrt. Was heute richtig ist, hat man gestern noch anders gesehen. Morgen wird man es womöglich für falsch halten. Und manche Frage könnte das Gesetz ohne Weiteres anders entscheiden – dann wäre eben etwas anderes „richtig“. „Richtig“ ist also einigermaßen relativ, bezogen auf die Rechtsordnung im Jetzt und Hier. Und bezogen auf die herrschende Meinung in Rechtsprechung und Wissenschaft überall dort, wo das Gesetz keine eindeutigen Antworten gibt.
Folgerichtig bedeutet das, dass man im Recht fast alles problematisieren kann. Angesichts der Produktivität der Rechtswissenschaft in Sachen „das kann man aber auch ganz anders sehen“ ist auch fast alles schon problematisiert worden. Gott sei Dank sind aber enorm viele Fragen heute faktisch ausgestritten. Es gibt also eine „richtige“ Antwort.
Aber es ist die noble Aufgabe universitärer Rechtswissenschaft, nicht nur forschend, sondern auch im Unterricht immer wieder darauf hinzuweisen, dass die heute als „richtig“ gehandelte Entscheidung nur eine unter vielen möglichen Entscheidungen ist. Das weitet den Horizont der Lernenden. Der kleine Nachteil besteht darin, dass das Wissen um die vielen ehemaligen und potenziellen Streitfragen und -stände in Prüfungen fast nicht präsentabel ist, weil eine Klausur prüfungsordnungsgemäß nach zwei oder drei oder fünf Stunden endet. Das zwingt zu Schwerpunktsetzungen.
Wer aber lernend immer nur die Klausur im Blick hat, die als Gutachtenklausur beinahe zwangsläufig den Schwerpunkt auf die „richtigen“ oder wenigstens „vertretbaren“ Anwendung des geltenden Rechts auf einen zu diesem Zweck konstruierten Sachverhalt legt, beraubt sich der Chance, die ein rechtswissenschaftliches Studium bietet: Recht als eine historisch veränderliche Materie zu begreifen, die auch in der Gegenwart politischen Einflüssen unterliegt und sich in vergleichender Perspektive immer wieder als auch-anders-regelbar erweist.
Vertretbar – das „richtig“ des kleinen Mannes
Der Begriff „vertretbar“ erweist sich bei genauerem Hinsehen als schillernd. Der Blick auf die vertretbaren Sachen des § 91 BGB führt nur wenig weiter, ebenso wie etwa der vertretbare Aufwand des § 558c IV BGB. Bezogen auf eine rechtliche Argumentation und/oder deren Ergebnis bedeutet „vertretbar“ halbwegs neutral „so kann man argumentieren“, „kann man so machen“. Nicht selten wird es benutzt im Sinne von „kann man so machen, steht aber anders in der Lösungsskizze“ oder „… wird von der herrschenden Meinung anders entschieden“. Da klingt schon ein bisschen „zweitbeste Meinung“ durch. Und immer wieder meint man eine weitere Nuance zu ahnen: „Das kann man im Ergebnis so sehen, aber die hier gegebene Begründung ist zu kurz, zu unvollständig, stützt sich auf die falschen Argumente“; manche Prüfer deuten das mit „i.E. vertretbar“ wenigstens an.
Lesenswert zum Begriff der Vertretbarkeit: Neupert, JuS 2016, 489 ff.
4. Die Ähnlichkeitsfalle
Auf die Ähnlichkeitsfalle braucht man nur kurz hinzuweisen, weil sie ein Dauerbrenner ist, den praktisch jeder juristisch Lehrende auf dem Schirm hat. Die „richtige“ „Lösung“ für diesen „Fall“ ist nämlich erstaunlich oft nur für einen ähnlichen Sachverhalt „richtig“. Das hat zwei Gründe. Zum einen gibt es im echten Leben keine gleichen Sachverhalte, sondern nur ähnliche. Es passiert nicht zweimal dasselbe. Ob zwei ähnliche Konfliktsachverhalte in der entscheidenden Hinsicht gleich sind, ist immer das Ergebnis einer wertenden Entscheidung. Hinzukommt im Prüfungsgeschäft während des Studiums, dass es völlig üblich und legitim ist, wenn Prüfer sehenden Auges einen Übungssachverhalt abwandeln, so dass eine andere Entscheidung möglich, diskutabel oder geradezu zwingend wird. Das schärft nämlich auch den Blick der Lernenden. Eine andere Entscheidung bedeutet unter den Bedingungen des Rechts dann oft eine entgegengesetzte Entscheidung: Der Anspruch besteht gerade nicht oder der Täter ist eben doch strafbar wegen Diebstahls.
Sehr oft glaubt man also nur, mit der „richtigen Lösung“ vertraut zu sein – und verliert dabei den Blick für die entscheidenden Unterschiede zwischen den zu beurteilenden Sachverhalten. Das passiert nicht nur Anfängern. In Prüfungen ist es gelegentlich ziemlich folgenschwer.
Man muss sich also immer ein wenig zusammenreißen, wenn man spontan denkt: „Genau diesen Sachverhalt kenne ich – und die richtige Entscheidung auch.“
Schluss
Wenn in einer Prüfung jemand neben Ihnen sitzt, der nach dreiminütigem Lesen des Sachverhalts ausruft „Ich kenne die richtige Lösung schon!“ und dann zügig zu schreiben beginnt, wirkt das massiv verunsichernd. Sie können aber dem Druck, den dergleichen auf Sie ausübt, ganz gut begegnen mit „Du glaubst nur, eine gut begründbare Entscheidung für die Probleme zu kennen, weil Du schon einmal etwas Ähnliches gelesen hast. Viel Glück!“. Und das müssen Sie noch nicht einmal laut aussprechen. Es genügt, wenn Sie es halbwegs laut denken.