Ich erinnere mich noch lebhaft an meine Grundrechtsvorlesung, als ich zum ersten Mal mit der Kontroverse um den Ehebegriff des Grundgesetzes konfrontiert wurde. Unser Professor bezeichnete die damals vorherrschende Auffassung, nach der das Grundgesetz nur die Ehe zwischen Mann und Frau schütze, schlichtweg als “totalen Quatsch” – eine Einschätzung, die sich als geradezu prophetisch erweisen sollte. Denn während die Verfassungsrechtler:innen sich in scheinbar endlosen Debatten verstrickten, ob Art. 6 I GG auch gleichgeschlechtliche Ehen unter seinen schützenden Schirm nehmen dürfe, entwickelte sich die gesellschaftliche Realität längst in eine andere Richtung.
Die Öffnung der Ehe im einfachen Recht: Ein Triumph der Gleichberechtigung
Das einfache Recht hatte 2017 bereits Klarheit geschaffen: Die Ehe steht allen offen – unabhängig vom Geschlecht der Partner. § 1353 I BGB formuliert seither unmissverständlich: “Die Ehe wird von zwei Personen verschiedenen oder gleichen Geschlechts auf Lebenszeit geschlossen. Die Ehegatten sind einander zur ehelichen Lebensgemeinschaft verpflichtet; sie tragen füreinander Verantwortung.” Ein Meilenstein, der gegen erbitterten Widerstand erkämpft wurde.
Konservative Politiker diffamierten die gleichgeschlechtliche Ehe als “Homo-Ehe”, prophezeiten den Untergang des Abendlandes und zweifelten bis zuletzt ihre Verfassungsmäßigkeit an. Doch trotz dieses Widerstandes ging der Bundestag diesen wichtigen Schritt – ein Triumph für die Gleichberechtigung. Doch verfassungsrechtlich war damit längst nicht alles geklärt.
Der Ehebegriff aus Art. 6 I GG – weit weg von der gesellschaftlichen Realität?
Art. 6 I GG der Ehe und Familie unter besonderen grundrechtlichen Schutz stellt, definiert den Begriff der Ehe nicht. Das Bundesverfassungsgericht hatte über Jahrzehnte hinweg eine klare Position vertreten: Die Verschiedengeschlechtlichkeit sei ein “unveränderliches Strukturprinzip” der Ehe und basiere auf der christlich-abendländischen Tradition. Diese Auffassung war tief in der Rechtsprechung und Literatur verankert und wurde oft mit biologischen Argumenten begründet: Die Ehe diene der Fortpflanzung, und diese sei nun einmal nur zwischen Mann und Frau möglich.
Diese Argumentation war schon damals mehr als fragwürdig. Sie ignorierte nicht nur die gesellschaftliche Realität nichtehelicher Kinder und die Existenz zeugungsunfähiger Ehepaare, sondern auch die modernen Möglichkeiten der Familienplanung – von der Adoption durch gleichgeschlechtliche Paare bis zur Kinderwunscherfüllung durch Samenspende bei lesbischen Paaren. Die Reduzierung der Ehe auf ihre Fortpflanzungsfunktion erscheint in unserer pluralistischen Gesellschaft zunehmend als ein Relikt einer vergangenen Zeit. Eine Ehe bedeutet so viel mehr als “Kinder kriegen” und “Kinder großziehen” – sie ist ein Bund der Liebe, der gegenseitigen Unterstützung und des gemeinsamen Lebensweges.
Doch die Änderung des einfachen Rechts führte nicht automatisch zu einer Anpassung des Verfassungsrechts. Juristisch betrachtet war die Sache komplizierter: Das einfache Gesetz war geändert, die gesellschaftliche Realität hatte sich gewandelt, aber das Grundgesetz schien in dieser Frage weiterhin unklar.
Der Paukenschlag 2023: Ein neuer verfassungsrechtlicher Ehebegriff
Und 2023 dann ein Paukenschlag – würde man zumindest meinen. In einem Beschluss zu dem umstrittenen Kinderehen-Bekämpfungsgesetz (BVerfG, Beschl. v. 01.02.2023, Az. 1 BvL 7/18 1. Ls) formulierte das Bundesverfassungsgericht wie nebenbei eine revolutionär neue Definition der Ehe: Sie sei eine “rechtlich verbindliche, im Grundsatz auf Dauer angelegte, auf freiem Entschluss beruhende, in besonderer Weise mit gegenseitigen Einstandspflichten einhergehende, gleichberechtigte und autonom ausgestaltete Lebensgemeinschaft”. Von der Verschiedengeschlechtlichkeit keine Spur mehr. Eine stille Revolution – würde man meinen.
Das Erstaunliche an dieser Entwicklung ist die verhaltene Reaktion. Während einige (wenige) Kommentare die Entscheidung als unbedeutende Randnotiz abtun oder ihre Klarheit in Zweifel ziehen, erkannten andere Autoren die enorme Tragweite an. Das Bundesverfassungsgericht hat nicht weniger getan, als den verfassungsrechtlichen Ehebegriff für das 21. Jahrhundert neu zu definieren – und das ohne große Aufregung, ganz nebenbei.
Warum aber bleibt die große Diskussion aus? Vielleicht, weil viele Jurist:innen den gesellschaftlichen Wandel bereits verinnerlicht haben? – und die Entscheidung als längst überfällige Anpassung der Rechtsprechung an die Realität sehen? Oder liegt es an der Verweigerungshaltung konservativer Kreise, die den Wandel nicht wahrhaben wollten?
Das Grundgesetz als lebendige Verfassung
Was wir hier erleben, ist ein Paradebeispiel für die Lebendigkeit unserer Verfassung. Das Grundgesetz erweist sich nicht als starres Regelwerk, sondern als atmendes System, das sich gesellschaftlichen Entwicklungen nicht verschließt. Was gestern noch als “unveränderliches Strukturprinzip” galt, kann heute – im Lichte gewandelter gesellschaftlicher Verhältnisse – neu interpretiert werden. Das ist keine Schwäche, sondern die große Stärke unserer Verfassung.
Diese Entwicklung zeigt auch, wie Recht und Gesellschaft in einem ständigen Dialog stehen. Was in meiner Grundrechtsvorlesung noch als akademische Kontroverse erschien, hat sich zu einer fundamentalen Neuausrichtung des verfassungsrechtlichen Eheverständnisses entwickelt. Mein Professor hatte Recht – manchmal braucht es eben nur Zeit, bis auch das Verfassungsrecht der gesellschaftlichen Realität folgt.
Der stille Paukenschlag des Bundesverfassungsgerichts markiert dabei einen historischen Moment: Die endgültige verfassungsrechtliche Anerkennung der Ehe für alle. Nicht mit großen Gesten, sondern in der für das Gericht typischen, sachlichen Art – aber deswegen nicht weniger revolutionär. Es ist ein Triumph der gesellschaftlichen Entwicklung über die dogmatische Unbeweglichkeit, der zeigt, dass unser Grundgesetz auch nach über 70 Jahren nichts von seiner Zukunftsfähigkeit verloren hat.
Fundstellen:
- https://www.bundestag.de/
- https://www.lto.de/
- https://verfassungsblog.de/
- https://www.verlag-rolf-schmidt.de/
- Uhle, in: BeckOK GG, 58. Ed. 15.6.2024, GG Art. 6 Rn. 4-4.5.
- Badura, in: Dürig/Herzog/Scholz, 105. EL August 2024, GG Art. 6 Rn. 42ff.
- Pfeiffer, Kinderehen-Bekämpfungsgesetz teilweise verfassungswidrig und neue Ehedefinition, in: LMK 2023, 807426.
- Payandeh, Grundrechte Im Ausland geschlossene Minderjährigenehen, in: JuS 2023, 1170.