Wenn ein Strafurteil rechtskräftig ist, scheint es in Stein gemeißelt. Doch was, wenn es auf einem Justizirrtum beruht? Die Möglichkeiten, ein solches Fehlurteil aufzuheben, sind in Deutschland begrenzt – und werden selten genutzt. Der Verein Fehlurteil und Wiederaufnahme e.V., gegründet 2021, will das ändern. Das „Innocence Project Deutschland“ versteht sich als Anlaufstelle, Forschungsprojekt und Reformmotor zugleich.
Das Motto: „Hinter jedem Fehlurteil steht ein Mensch, kein abstrakter Fall. Unser Anspruch ist es, der Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen.“
Von der Idee zur Gründung
Die Initiative geht zurück auf den erfahrenen Strafverteidiger Prof. Dr. Stefan König, der gemeinsam mit Prof. Dr. Carsten Momsen (FU Berlin) und weiteren Mitstreiter:innen die Idee einer systematischen Auseinandersetzung mit Justizirrtümern vorantrieb. Am 27. November 2020 kam es zur ersten Zusammenkunft von Strafjurist:innen, Psycholog:innen und Wissenschaftler:innen. Am 17. April 2021 wurde der Verein gegründet.
Vorbild war das US-amerikanische Innocence Project, das seit den 1990er Jahren spektakuläre Fehlurteile aufdeckt, vielfach mit Hilfe von DNA-Analysen. In Deutschland fehlte bislang eine vergleichbare Einrichtung.
Geleitet wird der Verein heute von König, dem Rechtswissenschaftler Johannes Kaspar und der Strafverteidigerin Carolin Arnemann. Insgesamt beschäftigt der Verein derzeit sechs Mitarbeitende. Unterstützt wird er von einem bundesweiten Netzwerk ehrenamtlich tätiger Strafverteidiger:innen sowie rund zehn Sachverständigen. Die Finanzierung erfolgt über eine private Stiftung und Spenden.
Hilfe für rechtskräftig Verurteilte
Im Mittelpunkt steht die konkrete Fallarbeit. Der Verein bietet Menschen, die sich zu Unrecht verurteilt sehen, eine Anlaufstelle zur kostenlosen Prüfung möglicher Wiederaufnahmegründe nach § 359 StPO. Denn: „Trotz aller Sorgfalt kann es passieren, dass Menschen unschuldig verurteilt werden und dass es fast unmöglich ist, diese Urteile wieder aufzurollen.“
Diese erste Prüfung übernehmen ehrenamtlich tätige Anwält:innen. In geeigneten Fällen werden die Akten an Law Clinics an derzeit neun Universitäten weitergeleitet – darunter Berlin, Göttingen, Köln, Augsburg, Bielefeld und Greifswald. Dort analysieren Studierende unter anwaltlicher Anleitung die Erfolgsaussichten eines Wiederaufnahmeantrags. Bei hinreichender Aussicht auf Erfolg wird ein Antrag durch eine Strafverteidigerin oder einen Strafverteidiger gestellt.
Bisher hat der Verein mehr als 220 Fälle geprüft und fünf Wiederaufnahmeanträge sowie drei Beiordnungsanträge gestellt. Auch in der Schlussphase des Wiederaufnahmeverfahrens im Fall Manfred Genditzki war der Verein unterstützend tätig.
Reformbedarf im Wiederaufnahmerecht
Doch die Arbeit des Vereins geht über Einzelfälle hinaus. Auf Grundlage der Fallarbeit analysiert die Organisation systematisch die Ursachen von Fehlurteilen – und fordert Reformen im Wiederaufnahmerecht. In Deutschland fehlt bislang eine Fehlerkultur im Strafprozess. Wiederaufnahmeverfahren werden kaum wissenschaftlich begleitet oder statistisch erfasst. Fehlurteile bleiben meist im Verborgenen – auch, weil Verurteilte häufig mittellos sind und Wiederaufnahmeverfahren mit erheblichen praktischen und rechtlichen Hürden verbunden sind.
Das Ziel: „Wir wollen langfristig verlässliche Strukturen schaffen, die an drei Punkten ansetzen: Fehlurteile sollen früher erkannt, wirksamer korrigiert und – vor allem – von vornherein verhindert werden.“ Dazu gehört auch, „durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit das Bewusstsein“ zu stärken, dass „Fehlurteile auch in Deutschland Realität sind und dass wir verstehen müssen, wie und warum sie entstehen“.
Ein geplanter Ermittlungsfonds soll es künftig ermöglichen, unabhängige Gutachten zu finanzieren – ein zentraler Engpass in vielen Wiederaufnahmeverfahren.
Neben der Fallarbeit bietet der Verein regelmäßig Fortbildungsveranstaltungen für Verteidiger:innen und Studierende an, etwa zur Praxis der Wiederaufnahme oder kriminalistischen Fehlerquellen im Strafverfahren. Studierende werden in speziellen Curricula an den Law Clinics unterrichtet – mit Inhalten zu Wiederaufnahmerecht, Fehlurteilen und kriminalistischen Methoden.
Auch Anwält:innen können sich in Kooperation mit der Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des DAV fortbilden lassen, um später selbst an der Arbeit des Vereins mitzuwirken – ein Pro-bono-Engagement, das durch die Einbindung von Studierenden unterstützt wird.


