Die Pandemie hat nicht nur das Gesundheitswesen, sondern auch das Rechtssystem an seine Grenzen geführt. Mit Urteil vom 9. Oktober 2025 (Az. III ZR 180/24) hat der Bundesgerichtshof (BGH) nun einen Meilenstein an der Schnittstelle von Medizin- und Staatshaftungsrecht gesetzt.
Im Mittelpunkt stand die Frage, ob eine niedergelassene Ärztin, die im Rahmen der staatlich organisierten COVID-19-Impfkampagne tätig war, persönlich für einen geltend gemachten Impfschaden haftet. Der BGH verneinte dies entschieden: Die Ärztin habe bei der Durchführung der Impfung in Ausübung eines öffentlichen Amtes im Sinne von Art. 34 Satz 1 GG gehandelt. Damit liege keine privatärztliche Tätigkeit vor, sondern eine hoheitliche Maßnahme.
Konsequenz: Haftungsadressat ist nicht die Ärztin, sondern das jeweilige Bundesland nach den Regeln der Amtshaftung nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG.
Öffentliche Daseinsvorsorge durch Ärzt:innen
Das Urteil verdeutlicht, dass ärztliches Handeln nicht immer allein dem Privatrecht unterliegt. In bestimmten Konstellationen insbesondere, wenn es Teil einer staatlich gesteuerten Gesundheitsmaßnahme ist wird die ärztliche Tätigkeit zum Bestandteil der öffentlichen Verwaltung. Gerade die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie eng Medizin und Staat ineinandergreifen, wenn es um den Schutz der Allgemeinheit geht. Impfungen dienten hier nicht nur dem individuellen Gesundheitsschutz, sondern auch der Erfüllung staatlicher Schutzpflichten nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.
Der BGH würdigt die Mitwirkung von Ärztinnen und Ärzten als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge. Die Impfaufklärung traditionell Bestandteil der privatrechtlichen Arzt-Patient-Beziehung wird im Rahmen einer staatlichen Impfkampagne zur öffentlichen Aufgabe. Aufklärungsfehler sind daher nicht der Ärztin persönlich, sondern dem Staat als Träger der Gesundheitsvorsorge zuzurechnen.
Entscheidend war laut BGH nicht die berufliche Stellung der Ärztin, sondern die Funktion, die sie im Impfprogramm erfüllte. Sie habe als sogenannte Beliehene gehandelt, also als Privatperson, der der Staat hoheitliche Befugnisse überträgt. Diese Differenzierung ist nicht nur juristisch relevant, sondern auch gesellschaftlich bedeutsam: Der Staat trägt Verantwortung für das Handeln, das er organisiert.
Amtshaftung aus § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG
Nach § 839 Abs. 1 BGB haftet, wer in Ausübung eines ihm anvertrauten öffentlichen Amtes eine einem Dritten gegenüber bestehende Amtspflicht verletzt. Gemäß Art. 34 Satz 1 GG geht diese Haftung jedoch auf den Staat über der Amtswalter selbst bleibt grundsätzlich haftungsfrei.
Dieses System verfolgt einen doppelten Zweck: Es sichert einerseits die Funktionsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung und stärkt andererseits das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in staatliche Strukturen.
Der BGH verankert diese Logik in einem zweistufigen Haftungssystem:
- Amtshaftung nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG für Fehler bei der Durchführung der Impfung.
- Sozialrechtliche Entschädigung nach § 60 IfSG für gesundheitliche Schäden durch die Impfung selbst.
So verbindet die Rechtsprechung präventive staatliche Verantwortung mit einem klaren Ausgleichsmechanismus für Betroffene und verhindert zugleich, dass einzelne Ärztinnen und Ärzte zu individuellen Haftungsträgern staatlicher Gesundheitsmaßnahmen werden.
Der Arzt als Amtswalter?
Dem gegenüber steht das klassische privatrechtliche Behandlungsverhältnis nach §§ 630a ff. BGB. Hier schuldet der Arzt eine fachgerechte Behandlung nach § 630a Abs. 2 BGB und eine umfassende Aufklärung nach § 630e BGB und Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts des Patienten nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Fehlt eine ordnungsgemäße Aufklärung, ist die Einwilligung unwirksam nach § 630d Abs. 1 BGB mit der Folge möglicher Haftung wegen Körperverletzung nach § 823 Abs. 1 BGB.
Im Fall der Corona-Impfungen galt diese klassische Konstellation jedoch nicht. Die Impfungen erfolgten im Rahmen einer staatlich koordinierten und finanzierten Impfkampagne, deren rechtliche Grundlage das Infektionsschutzgesetz (IfSG) und die CoronaImpfV bildeten. § 1 Abs. 1 IfSG nennt ausdrücklich den Zweck, übertragbaren Krankheiten vorzubeugen und deren Ausbreitung zu verhindern.
Zudem ermächtigte § 20i Abs. 3 SGB V das Bundesgesundheitsministerium, Impfprogramme durch Rechtsverordnung zu regeln. Die impfende Ärztin handelte somit nicht auf eigene Rechnung, sondern im Rahmen öffentlicher Gesundheitsvorsorge eine Tätigkeit mit hoheitlichem Charakter.
Bemerkenswert ist der Hinweis des BGH auf bereits bestehende Entschädigungsregelungen: Nach § 60 IfSG erhält, wer durch eine Schutzimpfung einen gesundheitlichen Schaden erleidet, eine Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Dieses System bildet seit Jahrzehnten das Rückgrat des Entschädigungsrechts bei Impfschäden und stellt sicher, dass Betroffene nicht schutzlos bleiben.
Vertrauen in den Rechtsstaat
Damit ist klar: Ärztinnen und Ärzte werden bei staatlich organisierten Impfaktionen rechtlich entlastet, während Geschädigte dennoch einen geregelten Anspruch auf Entschädigung behalten.
Bürgerinnen und Bürger können sich darauf verlassen, dass der Staat nicht nur impft, sondern auch Verantwortung übernimmt, wenn etwas schiefgeht. Damit konkretisiert der BGH die Schutzpflicht des Staates für Leben und körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und bekräftigt zugleich das Sozialstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 1 GG. Die Entscheidung balanciert geschickt die Interessen von Ärztinnen und Ärzten, Patientinnen und Patienten sowie des Staates selbst – ein Paradebeispiel funktionierender Rechtsstaatlichkeit im Gesundheitswesen.
Fazit: Wo der Staat impft, muss er auch haften – das ist das Versprechen des Rechtsstaats.


