Zu Beginn eines jeden Jurastudiums stellt sich früher oder später – meistens noch im ersten Semester – die Frage: Muss ich wirklich alle Vorlesungen besuchen? Ich erkläre Dir, wieso der Besuch von Juravorlesungen grundsätzlich sinnvoll ist – und wieso sich einige nicht lohnen.
Ohne das Ergebnis vorwegzunehmen, kann ich dir guten Gewissens sagen: nein. Du musst gar nichts. Bis auf einzelne Pflichtveranstaltungen, bei denen eine Teilnahmepflicht besteht, ist der Besuch der meisten Vorlesungen freiwillig.
Ich persönlich kenne viele Jurastudierende, die nur zu Hause gelernt haben – genauso auch viele, die in jede Vorlesung gegangen sind und nur in der Bibliothek gelernt haben. Geschafft haben das Examen letztlich beide Gruppen. Entscheidend ist vielmehr die Antwort auf die Frage, wie DU am besten lernst und wie gut die angebotenen Vorlesungen sind. Denn selbst die beste Vorlesung bringt dir nichts, wenn du aus ihr nichts mitnehmen kannst.
Welcher Lerntyp bis du?
Eins vorab: jeder ist anders. Der eine lernt besser durch Zuhören, der andere auf diese Weise kaum bis gar nicht. Dies gilt es am besten noch im ersten Semester herauszufinden. Das ist Schritt eins. Bevorzugst Du das Lernen durch Hören und Sprechen, bist Du der auditive Typ und Vorlesungen sind super für Dich geeignet. Ist eher Lesen Dein Ding, dann bst du ein kognitiv-intellektueller Typ. Dem bevorzugten Lernen durch Sehen bzw. Beobachten entspricht der optisch-visuellen Typ. Du lernst am effizientesten durch Anfassen bzw. Fühlen? Dann gehörst Du zu den haptisch-kinästhetischen Typen.
Die meisten unter uns sind Mischtypen, d.h. wir lernen am besten, wenn wir alle Typen vereinen und verschiedene Lernmethoden miteinander kombinieren. Daher schadet es nicht, Vorlesungen zu besuchen, den Stoff also auditiv aufzunehmen und ihn zusätzlich nachzulesen und sich visuell anhand von Mindmaps, Skizzen, Mitschriften o.Ä. einzuprägen. Dennoch überwiegt meistens ein Lerntyp, der eben bei jedem anders aussieht. Es macht also mehr Sinn, dem eigenen Lerntyp zu folgen statt der großen Masse der Jurastudierenden. Nur, weil andere durch Zuhören lernen, muss das nicht für Dich gelten. Es bringt Dir daher nichts, dem Schwarm blind hinterher zu schwimmen, wenn dich der Strom nicht an Dein gewünschtes Ziel bringt.
Natürlich ist es vollkommen okay, wenn du Dich anfangs erst einmal an der Masse orientierst. Daher rate ich, im ersten Semester zunächst dazu, alle relevanten Vorlesungen zu besuchen, um einen Vergleich und ein Gefühl dafür zu bekommen, welche Vorlesung dir tatsächlich nützt. Wichtig ist, dass Du Dich ausprobierst und ehrlich zu Dir selbst sein kannst. Mach Dich nicht verrückt, wenn alle eine bestimmte Vorlesung besuchen, der Du aber absolut nicht folgen kannst. Wie gesagt, jeder ist anders!
Schritt zwei besteht dann darin, unnötige Vorlesungen, denen du nicht folgen kannst – oder willst – auszusortieren.
Vorlesungen aussortieren – aber wie?
Die Vorlesung nicht zu besuchen, bedeutet nicht, den Stoff nicht zu lernen. Egal, ob Du Vorlesungen besuchst oder nicht, ist es sinnvoll und wird von allen Professor:innen geraten, den Stoff vor- bzw. nachzubereiten. Im besten Falle natürlich beides, sofern die Zeit und Nerven dafür vorhanden sind und das soziale Leben nicht allzu sehr darunter leidet.
Ein gut gemeinter Rat: Finde die Balance. Nicht jede Vorlesung ist Schrott, aber auch nicht jede ist gut (für Dich).
Doch wie entscheidet man am besten, welche Vorlesungen man besuchen sollte und welche nicht? Dazu kannst du dir die folgenden Fragen stellen:
- Kannst Du dem:der Professor:in gut folgen?
- Hörst Du wirklich zu oder lenkst du Dich nebenher ab?
- Gehst du motiviert aus der Vorlesung raus?
- Hast du beim Nachbereiten das Gefühl, das schon einmal „gehört“ zu haben oder hast den Stoff ggf. schon „drauf“?
- Gibt der:die Professor:in nützliche Tipps oder Hinweise für bevorstehende Klausuren?
Wenn Du mehr als drei Fragen mit Nein beantwortet hast, kannst Du die Vorlesung ohne schlechtes Gewissen sausen lassen. Glaube mir, es macht keinen Sinn, sich in eine Vorlesung zu setzen, wenn man ihr nicht folgen kann und nur seine Zeit „absitzt“. Schlimmer als eine verpasste Vorlesung, die Dir nichts bringt, ist es, Deine Zeit mit dieser zu verschwenden. Denn in derselben Zeit kannst du Dir genau dieselben Lerninhalte anderweitig, bspw. durch eine private Lerngruppe, ein Repetitorium oder durch das Selbststudium mit Lehrbüchern erarbeiten. Voraussetzung hierfür ist allerdings auch eine gute Portion Selbstdisziplin. Um die kommst du so oder so in diesem Studiengang nicht herum.
Die Vorteile einer Vorlesung
Natürlich möchte ich Dir nicht die Vorteile einer Vorlesung vorenthalten. Besuchst du diese regelmäßig, ist es selbstverständlich viel leichter, soziale Kontakte zu knüpfen und ein soziales Netzwerk aufzubauen. Dies ist beim Lernen von Zuhause aus nicht der Fall bzw. um einiges schwieriger.
Zudem kannst du in der Vorlesung Fragen stellen, die dem Verständnis helfen. Bei einer aktiven Mitarbeit deinerseits prägen sich die Lerninhalte außerdem besser ein als durch stupides Nachlesen. Aktives Lernen lautet hier das Schlagwort. Ferner kann es sein, dass der:die Professor:in in der Vorlesung nützliche Lerntipps oder einen Hinweis darauf gibt, was Inhalt der nächsten Prüfung sein wird. Zudem verknüpfst du schneller Zusammenhänge und lernst den Stoff intensiver, wenn du ihn zusätzlich zum Selbststudium zuvor oder nachträglich noch einmal hörst.
Allerdings sei darauf hingewiesen, dass einem allein durch das Besuchen von Vorlesungen das Selbststudium nicht erspart bleibt! Denn in der Vorlesung kann nicht jedes einzelne Problem behandelt werden. Sieh die Vorlesung daher eher als Ergänzung oder Basis.
Dies allein sollte dich jedoch nicht dazu veranlassen, jede x-beliebige Vorlesung zu besuchen – sofern sie Dir nichts nützt. Denn die Voraussetzung, dass du etwas aus der Vorlesung mitnimmst, ist es, dass du zuhörst. Kurz gesagt: Am Ende des Tages liegt es an Dir, ob Du die Lerninhalte aufsaugst oder an Dir abprallen lässt. Dir nützt das beste soziale Netzwerk nichts, wenn die Vorlesung für Dich nur Zeitverschwendung ist.
Mit der Zeit bekommst Du ein Gespür dafür, welche Vorlesungen für Dich persönlich sinnvoll sind und welche nicht. Wichtig ist es also, sich zunächst auszuprobieren. Nicht nur, was die Vorlesung an sich angeht, sondern auch die „Tools“, die Du währenddessen nutzt.
Welche „Tools“ helfen in der Vorlesung?
Neben der Frage, ob du die Vorlesung vor- oder nachbereiten (oder beides) willst, wirst Du Dir früher oder später überlegen, mit welchen Tools zu arbeiten willst. Auch hier gilt: Jeder ist anders, weswegen mit dem Strom schwimmen langfristig nicht zu empfehlen ist. Da Dir die Uni, im Gegensatz zur Schule, nicht vorschreibt, wie Du zu „arbeiten“ hast, hast du die Qual der Wahl:
- Lernen in der Bibliothek oder Zuhause?
- Oldschool mit Stift und Papier oder mit Laptop?
- Materialien drucken oder digital lernen?
- Alles selbst mitschreiben oder schon ausgeteilte Materialien oder Skripte/Lehrbücher nutzen und diese Texte nur ergänzen?
- Nachteule oder früher Vogel?
Es gibt kein Patentrezept, was am besten funktioniert – ausprobieren lautet die Devise. Am Anfang des Studiums hast Du noch die Möglichkeit, Dich auszutoben und zu testen, was für Dich funktioniert. Nutze die Zeit und Du wirst sehen, dass Dir das Lernen im Studium viel leichter fällt, wenn Du auf dich hörst.
Fazit: kein schlechtes Gewissen haben!
Hab kein schlechtes Gewissen, wenn du nicht alle Vorlesungen besuchst. Für den Anfang würde ich Dir dennoch raten, zunächst einmal in alle Vorlesungen zu gehen. So bekommst Du ein Gespür dafür, welche Dir etwas nützen – und welche nicht. Besuchst du nur ausgewählte Vorlesungen, hat das den Vorteil, dass Du die Zeit effektiv nutzt und die Zeit für nicht besuchte Vorlesungen anderweitig sinnvoll für dein Selbststudium verwerten kannst. Auch wenn Du in alle Vorlesungen gehst, solltest Du den Stoff im Selbststudium vor- oder nachbereiten. Eine Vorlesung allein ist keine Garantie dafür, dass alle relevanten Lerninhalte vermittelt werden (was angesichts der Zeit auch kaum möglich sein dürfte). Letzten Endes entscheidest Du.
Alles Gute und eine schöne Zeit!