Darf ein Abgeordneter der AfD, der im Rahmen seiner Wahlkreisarbeit einen Bürgermeister besucht, auf Social Media als “Nazi” bezeichnet werden? Darüber hatte das Oberlandesgericht Stuttgart zu entscheiden.
Das OLG Stuttgart hatte im Juli 2022 über ein ganz besonderes Beleidigungsdelikt zu befinden: Der Revisionsführer wurde durch das Amtsgericht Reutlingen zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen verurteilt, weil er auf Instagram unter ein Foto eine – nennen wir sie rhetorische – Frage gepostet hatte. „Wer braucht den Nazi in Eningen???“, wollte der Angeklagte vom Bürgermeister derjenigen Gemeinde wissen, in der der so Bezeichnete auf seinem Wahlkreisantrittsbesuch gerade herzlich empfangen wurde. Pikant: Die Frage bezog sich auf einen Landtagsabgeordneten der Baden-Württembergischen AfD. Dieser wollte dem Bürgermeister eine „Initiative zur Förderung von Regenwassernutzungsanlagen“ vorstellen und machte damit über Social Media Werbung für sich und seine Partei.
AG Reutlingen verurteilt wegen Beleidigung
Die Frage des Angeklagten schien auch 21 weitere Nutzer:innen von Instagram umzutreiben, sammelte sein Beitrag doch entsprechend viele „gefällt mir“-Angaben. Der Bezeichnete allerdings war wenig begeistert und stellte Strafantrag wegen Beleidigung. Das Amtsgericht Reutlingen sah in der Frage eine strafbare Handlung. Der Strafrichter hielt die Bezeichnung „Nazi“ für eine sog. Formalbeleidigung, also eine Äußerung, die nach ihrem Wesenskern allein die Herabsetzung einer anderen Person zum Gegenstand hat. Auch die Generalstaatsanwaltschaft teilte diese Auffassung und beantragte, die Revision zu verwerfen.
Anders das Oberlandesgericht Stuttgart: Der Senat sprach den Angeklagten auf Basis der Sachverhaltsfeststellungen des Amtsgerichts frei. Dabei ordnete er die Äußerung dem Grunde nach wie das erstinstanzliche Gericht als Meinungsäußerung ein. Der Senat hielt die Bezeichnung „Nazi“ nicht für die Behauptung einer Tatsache, weil mit der Äußerung keine verifizierbaren konkreten Informationen verbunden seien und der Bezeichnete auch nicht einer spezifizierbaren Personengruppe zugeordnet werden könne. Gemeint war: Der Angeklagte bezeichnete den AfD-Abgeordneten weder als Mitglied der NSDAP noch einer anderen speziellen neofaschistischen Organisation wie beispielsweise der NPD. Im Vordergrund der Äußerung stand vielmehr eine politische Wertung: Der Bezeichnete war für den Angeklagten ein „Nazi“.
Formalbeleidigung oder berechtigte Wertung?
Deshalb musste das Oberlandesgericht die Äußerung im Folgenden in die Kategorisierung des Bundesverfassungsgerichts einordnen: ehrverletzende Meinungsäußerung oder formale Schmähung? Abweichend von der ersten Instanz sah der Senat in der Bezeichnung „Nazi“ keine Formalbeleidigung. „Inzwischen handelt es sich gewöhnlich um eine schlagwortartige Qualifizierung der politischen Einstellung oder Geisteshaltung“, befand er und bestätigte damit seine Rechtsprechung vom 23.09.2015 (Az. 4 U 101/15). Damit war vermittels § 193 StGB Tür und Tor für eine Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und persönlicher Ehre eröffnet.
Und diese Abwägung zelebrierte das Oberlandesgericht vorbildlich. Zunächst konstatierte es, für die Qualifizierung der Bezeichnung als „Nazi“ als ehrverletzende Beleidigung sei der Kontext maßgeblich. Im vorliegenden Fall bezog sich die Äußerung auf einen Abgeordneten einer „von nicht unerheblichen Teilen der Bevölkerung dem rechten Spektrum zugeordneten Partei, die zudem […] in mehreren Bundesländern von den Verfassungsschutzbehörden als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuft wurde.“ Nachdem der Angeklagte seine Frage als Kommentar zu einem Instagram-Post über die Wahlkreisarbeit des Abgeordneten postete, in der Letzterer sowohl eine konkrete parlamentarische Initiative bewarb als auch den Hashtag #AfD verwendete, musste jedem klar sein: Nicht der Mensch, sondern der Abgeordnete in seiner politischen Funktion ist hier adressiert.
Mit wem ich mich gemein mache…
Weiterhin maß das Oberlandesgericht der Frageform erhebliche Bedeutung zu: Im Kontext der Wahlkreisbereisung konnte die Äußerung des Angeklagten sogar als Kritik am Bürgermeister der Gastgemeinde eingestuft werden – umformuliert etwa: Warum hast du “den Nazi” überhaupt empfangen? Wer braucht den hier eigentlich?
Für den Freispruch maßgeblich war schließlich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Amtsträgerkritik. Jedermann müsse ohne Furcht vor Strafe seine Meinung über selbst gewählt in der Öffentlichkeit stehende Amtsträger (auch pointiert) zum Ausdruck bringen dürfen. Dies gelte unabhängig von einer persönlichen Beziehung zwischen den Beteiligten. Und diese Kritik dürfe sich auch und gerade auf die Mitgliedschaft in einer rechten oder rechtsextremistischen Partei beschränken. Ob der fragliche Abgeordnete selbst dem rechten Spektrum oder gar offen extremistischen Bewegungen zuzuordnen ist, erachtete das Oberlandesgericht für unbedeutend – Angriffspunkt der Kritik dürfe schon sein, mit welchen Gesinnungsgenossen man sich gemein mache.
Aber wenn er doch…?
In der Gesamtschau konnte der Senat deshalb keine strafbare Beleidigung erkennen. Der Gesamtkontext Parteimitgliedschaft in der AfD, die Wahlkreisbereisung und die Verwendung des Hashtags #AfD ließen die Frage des Angeklagten als scharf formulierte Kritik an politischen Amtsträgern erscheinen. Die Entscheidung zeigt deutlich, worauf Amtsgerichte bei der Einordnung öffentlicher Äußerungen mit ehrverletzendem Charakter achten müssen. Beziehen sich diese auf Abgeordnete der AfD, so kann die Bezeichnung als Nazi gerechtfertigt sein: Wer Mitglied – gar Mandatsträger im Namen – einer rechtsradikalen Partei wird, muss sich gefallen lassen, wenn ihn andere Menschen dafür kritisieren. Das ist Meinungsfreiheit: Das Recht (auch) auf kritischen Widerspruch; nicht aber das Recht, damit immer Gehör zu finden und andere Stimmen zum Schweigen zu bringen.
Entscheidung: OLG Stuttgart, Beschl. v. 19.07.2022, Az. 4 Rv 26 Ss 366/22