Studie: Richter:innen verlassen sich für ihre Urteile auf Wikipedia

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Hand aufs Herz: Wir alle verlassen uns in unserem Alltag ab und zu auf Informationen aus Wikipedia. Wann wurde Napoleon geboren? Wo liegt nochmal Wichsenstein? Und wer hat eigentlich den Tipp-Ex erfunden? Eine Studie ergab jetzt jedoch, dass sich selbst Richter:innen bei der Urteilsfindung auf Angaben aus Wikipedia verlassen. Und das ist problematisch.

Eine gemeinsame Studie (klick) des Massachusetts Institute of Technology (MIT) und der Maynooth University in Irland zeigt, dass sich Richter:innen regelmäßig auf Wikipedia-Artikel verlassen. Und zwar nicht nur, um Hintergrundinformationen zu erhalten, sondern auch, um juristische Argumente, Urteilszusammenfassungen und spezifischen Formulierungen zu finden, die sie in ihren Entscheidungen verwenden.

Forscher:innen schreiben 154 Artikel

Doch wie konnten die Forscher:innen mit Sicherheit sagen, dass sich die Richter:innen auf Wikipedia verlassen haben? Denn in den Urteilen selbst wird die Datenbank kaum bis gar nicht zitiert. Und welche:r Richter:in würde bei einer Befragung schon ehrlich zugeben, ständig (nur) mit Wikipedia zu arbeiten? Eine Idee war deswegen, in juristische Artikel auf Wikipedia absichtlich kleine Fehler einzubauen. Findet sich ein solcher Fehler wörtlich in einem Urteil wieder (beispielsweise eine falscher zweiter Vorname) wäre sehr sicher, dass der:die Richter:in den Absatz einfach aus Wikipedia kopiert hat. Doch die Forscher:innen hatten Skrupel, absichtlich Fehler in das online Lexikon einzubauen. Schließlich verlassen sich Millionen Menschen weltweit, die nicht Teil des Experiments sind, auf das online Lexikon.

Deswegen hatten die Forscher:innen eine andere Idee. Ein Jahr, von 2019 bis 2020, bereiteten mehrere Juraprofessor:innen gemeinsam mit ihren Wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen insgesamt 154 wissenschaftliche Artikel zu einflussreichen Entscheidungen des irischen Obersten Gerichtshofs vor. Zu diesem Zeitpunkt wurden auf Wikipedia gerade einmal neun solcher Entscheidungen besprochen. Jeden Artikel gab es dabei doppelt. Ein erfahrener Wikipedia-Redakteur leitete die Hälfte der Artikel (einen von jedem Paar) an die Plattform weiter.

Und dann lehnten sich die Forscher:innen zurück und beobachteten, welche Artikel wann und wie oft gelesen wurden und ob Auszüge daraus nach der Veröffentlichung auf Wikipedia signifikant häufiger in Urteilen auftauchten. 77 dieser neuen Wikipedia-Artikel fanden bei den Leser:innen großen Anklang und wurden innerhalb eines Jahres über 55.000 Mal aufgerufen.

Urteile mit Wikipedia-Artikel wurden 20 Prozent häufiger zitiert

Und auch bei der Analyse der Gerichtsentscheidungen, die nach der Veröffentlichung der neuen Wikipedia-Artikel gefällt wurden, entdeckten die Forscher:innen ein statistisch signifikantes Muster. Die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs zu denen es einen Wikipedia-Artikel gab, wurden von den Richter:innen 20 Prozent häufiger zitiert als die Fälle, deren Wikipedia-Artikel zurückgehalten worden war. Betroffen waren vor allem Richter:innen an niedrigeren Gerichten. Die Autor:innen der Studie gehen davon aus, dass diese besonders überlastet waren und deswegen eher auf Wikipedia zurückgriffen als eine aufwändige Literatur-Recherche durchzuführen. Darüber hinaus fanden die Forscher:innen in den Urteilen einen ähnlichen Anstieg bei der Verwendung bestimmter Wörter und Ausdrücke, die zuerst in den Wikipedia-Artikeln auftauchten – eine weitere Möglichkeit, die Kausalität nachzuweisen.

Die Studie enthält leider keine Einzelheiten darüber, wie die Fälle ausgegangen sind. Die Forscher:innen konnten insbesondere keine Fehlurteile finden, die eventuell auf die Benutzung von Wikipedia zurückzuführen sind. Allerdings hatten die Forscher:innen auch nie das Ziel, die Richter:innen in die Pfanne zu hauen. Sie wollten mit der Studie lediglich beweisen, wie allgegenwärtig Wikipedia in unserem Leben ist und welche große Rolle dieses „Wissen auf Knopfdruck“ auch im juristischen Beruf spielt.

Beeinflussung der Richter:innen möglich

Dass Richter:innen in diesem Umfang von Wikipedia abhängig sind und sich auf das dort bereitgestellte Wissen verlassen, hält der Leiter der Studie trotzdem für problematisch. Schließlich halten gerade Richter:innen das Schicksal von Menschen in den Händen. Denn Wikipedia ist anfällig für Manipulationen. Theoretisch könnte die Partei eines Gerichtsverfahrens auf die Idee kommen, kurz vor der Verhandlung einen entscheidenden Wikipedia-Artikel so zu verändern, dass der Inhalt sich positiv auf ihren Fall auswirkt. Die rechtzeitige Manipulation eines Lehrbuches, das von bekannten Autor:innen verfasst wird, zeitverzögert und nur nach mehreren Durchsichten erscheint, ist hingegen deutlich komplizierter.

Die Erkenntnis der Studie liegt trotzdem nicht darin, (überlastete) Richter:innen für die Verwendung von Wikipedia zu kritisieren. Sondern darin, dass uns allen bewusst ist, dass viele Menschen in wichtigen Berufen auf Wikipedia zurückgreifen. Und dass wir, wenn wir Wikipedia in einer so entscheidenden Sache benutzen, die Angaben doppelt gegenchecken müssen.

Wikipedia sollte diverser werden

Zu den Empfehlungen der Forscher:innen für Wikipedia selbst gehört, dass das online Lexikon sich darum bemüht, mehr Expert:innen als Autor:innen anzuwerben, die sich in ihrem Themenbereich auskennen und auch andere Artikel innerhalb ihrer Expertise überprüfen. Das steht jedoch etwas im Widerspruch zum ursprünglichen Ziel, ein online Lexikon zu sein, an dem wirklich jede:r mitarbeiten darf. Außerdem müssten sowohl die Autor:innen als auch die Artikel laut dem Ergebnis der Studie deutlich diverser ausfallen. So sind Frauen, BIPoC und LGBT+ Autor:innen weiterhin in der Minderheit. Und es gibt auch weniger Artikel, die sich inhaltlich mit diversen Themen auseinandersetzen.

Bei dieser Studie handelt es sich nicht um die Erste ihrer Art. Eine Studie aus Israel ergab, dass hungrige Richter:innen härtere Urteile fällen! (JURios berichtet).


Hinweis: Die Autorin dieses Artikels hat Wikipedia genutzt, um die Schreibweise von „Massachusetts“ zu überprüfen und mehr über den Forscher Neil Thompson zu erfahren (leider gibt es nur einen Wikipedia-Artikel über den gleichnamigen Football-Spieler).

Fundstelle: https://www.washingtonpost.com/

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