Radikal daneben: Fragwürdiger Humor vs. ernsthafte Reformbemühungen

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Dieser Artikel hat keine Pointe. Er enthält keine Forderungen, keine Versprechen. Er hat kein Rückgrat, keinen roten Faden. Pure Zeitverschwendung quillt aus all seinen Poren. Er weht vorbei wie die hundertste Reformforderung an den versteinerten Mauern der juristischen Ausbildung. Nicht mal Spraydosen für ein halbherziges, charakterloses Graffiti nimmt er noch in die Hand. Er tut gar nichts, er schweigt. Und sein Schweigen ist keine Haltung, werte Leserin. Es ist Selbstsabotage. Frisst alle Zeichen, die an dieser Stelle der Frage gewidmet werden sollten, warum eine Neuausrichtung der juristischen Ausbildung auch unserer Demokratie einen Gefallen täte. Geschmückt vom rosigen Größenwahn, nicht weiter auf das Unmögliche zu beharren. Er trägt ein weißes Hemd dabei, Blue Jeans und seine Sneakers sind ausgetreten, aber nicht ausgetreten genug, um aufzufallen. So läuft er über den glühenden Asphalt eines viel zu heißen Junitages, ziellos, bis der Vorhang fällt.

Was von ihm bleibt ist das garstige Gefühl enttäuschter Erwartungen. Warum? War nicht bereits vorher klar, dass ein kleiner Artikel rein gar nichts bewegen wird? Dass alles bleiben muss, wie es eben immer gewesen ist? Oder gründete die Entscheidung zur Lektüre auf der naiven Zuversicht, hier etwas zu lesen, dass das utopisch goldene Licht des reformierenden Konjunktivs beschwört? Welch fanatischer Irrsinn [echauffiertes Kopfschütteln]. Die Ergebnisse der iur.reform-Studie werden niemals die Realität betreten. Zwar kann sich grundsätzlich alles auf der Welt verändern: die juristische Ausbildung in Deutschland aber fällt in eine Kategorie sui generis.

Die Irritation unter Pappschildern

Nein, die gerade konsumierte Einleitung ist nicht prüfungsrelevant. Sie darf wieder vergessen werden! Es wird sogar dazu aufgefordert, dies zu tun. Ausnahmsweise dürften das aber keine gute Nachricht sein, da das Verlernen an dieser Stelle wahrscheinlich eine größere Herausforderung ist, als bloßes Wiederholen. Die häufig internalisierte Narrative zu bedienen, dass sich nicht ändern kann, was alt geworden ist, ist einfach wie gefährlich. Der puren Verzweiflung wegen hat die Autorin sie dennoch in Worte gegossen, dem Spiel mit der umgekehrten Psychologie wegen. Vielleicht war das taktisch unklug. Aber so ist das mit der Resignation, besonders nachdem ein Traum vor den eigenen Augen zerplatzt ist: Zunächst mag sie Kraft rauben, aber sie regt dazu an, neue Strategien zu erproben.

„Aber bitte kleben Sie sich nicht fest!“. Die Worte verhallen, während der Bundesjustizminister nach diesem letzten Satz dem Mikrofon und den Demonstrierenden den Rücken zuwendet. Irritierte Blicke folgen ihm auf seinem Weg in Richtung der Räumlichkeiten, in denen gerade die Justizminister:innenkonferenz stattfindet. Hinter ihm bleiben erhobene Hände zurück, die Pappschilder mit Sprüchen wie diesen halten: „Die juristische Ausbildung darf nicht krank machen!“, „Lernstoff reduzieren“, „Bildungsgerechtigkeit jetzt!“ oder „Bachelor integrieren“. Spoiler Alert: Niemand von den Demonstrationsteilnehmer:innen wird sich an diesem Tag im Innenhof des Parlais Kulturbrauerei festkleben. Die Überraschung darüber ist grenzenlos, schließlich sind Jurastudierende für ihren Aktionismus bekannt – oder auch nicht. Im Gegenteil scheint es beinahe schon radikal, dass sie sich organisiert haben und gemeinsam auf der Straße stehen, um einstimmig die Reform der Ausbildung zu fordern.

Abgeschottet von der Außenwelt und zwischen Karteikarten ist es so einfach, die Berechtigung der eigenen Kritik am System zu vergessen. Ein System, das sich selbst zur Selbstverständlichkeit erklärt – ohne echte Evaluationsmöglichkeit. Diejenigen, die ihm ausgeliefert sind, qualifizieren ihre Überforderung bald schon als eigene Unvollkommenheit. Doch wer gewinnt ein Spiel in einem System, in dem alle gegen alles kämpfen? Studierende gegeneinander, gegen den Lernstoff, gegen die eigene Unzufriedenheit. Die Klausur abgeben, aufatmen, schwarzen Kaffee tanken, weitermachen. Statt sich mit anderen zusammenzutun und bessere Studienbedingungen zu fordern, statt kranke Strukturen als solche zu identifizieren und anzuprangern, werden die Teilnehmenden allein krank, unzufrieden und müde. Die richtigen Noten oder der Gedanke daran und die Angst vor dem Versagen betäuben.

Nicht aber am 25. Mai 2023: Der blaue Himmel wird an diesem Donnerstag vor Begeisterung immer blauer und blauer werden. Doch als am Abend die Sonne über Berlin untergeht, scheint die Mühe umsonst. Im Ergebnisbericht der Justizministerkonferenz werden die iur.reform-Studienergebnisse nicht erwähnt. Nur ein winziger Hoffnungsschimmer glitzert noch am Horizont: Es soll sich nochmal mit dem Erhalt der Ruhetage auseinandergesetzt werden. Eine kleine Seifenblase, die sehr bald ebenfalls platzen wird.

Nicht festgeklebt, nichts festgelegt: Protestform, Strategie und Niederlage

Sich zu solidarisieren und zusammenzufinden, um zu protestieren, das darf in einer Demokratie nicht fehlen. Es ist Teil des Klebstoffs demokratischer Verhältnisse: Kommunikationsgrundrechte nutzen zu können, in den Diskurs zu treten, eigene Anliegen in den Ring öffentlicher Aufmerksamkeit zu werfen. Um gesamtgesellschaftliche Diskussionen anzuregen, die möglichst sachlich und lösungsorientiert geführt werden – trotz der Vehemenz des eigenen Unmutes. Nun kleben sich derzeit insbesondere junge Menschen auf Straßen oder werfen Kartoffelsalat an Gemälde, weil sie den Kommunikationsverkehr umlenken wollen. Denn wo niemand zuhört, wo internationale Klimaabkommen nicht ins nationale Recht übersetzt werden, da werden neue Strategien ausprobiert. Wer Angst davor hat, was die eigene Zukunft bringt, wo die planetaren Grenzen längst ausgereizt sind, mag das nachvollziehen können. Wie sich das anfühlt, wenn nichts mehr geht, das spiegeln die umstrittensten Proteste der letzten Generation im Straßenverkehr.

Warum aber der Bundesjustizminister diese Aktionsform nun assoziierte, als er sich vor eine Versammlung von Jurastudierenden und Absolvent:innen stellte, ist eine andere Frage. Interessiert sich Marco Buschmann mehr für die Protestform als für die klar formulierten Inhalte der Forderungen? Etwa, weil er von Anfang an nicht vorhatte, ernsthaft zuzuhören und sich mit den Punkten zukünftig auch auseinanderzusetzen? Den Beschlüssen der Konferenz nach mag dem so sein. Wäre das anders gewesen, wenn einige Tropfen Kleber den Asphalt des Innenhofes der Kulturbrauerei berührt hätten? Wahrscheinlich nicht. Diese Strategie hätte für Aufmerksamkeit gesorgt, sicherlich aber nicht für Wohlwollen – selbst solcher nicht, die grundsätzlich mit den Forderungen nach Reform sympathisieren. Es war und ist nicht iur.reforms Anliegen, Gemüter zu spalten und Kommunikationsfronten zu schaffen. Vielmehr ist und bleibt das Ziel einen demokratischen und datenbasierten Diskussionsprozess anzuregen, in dem alle Stakeholdergruppen an einen Tisch zusammenkommen. Einer, in dem auch solche ohne Machtpositionen mit gleicher Stimme vertreten sind, Impulse geben und mitbestimmen können: Jene, die den Studienbedingungen ausgesetzt sind. Ist das zu viel verlangt?.

Iur.reform arbeitet gratis, aber nicht umsonst

Eine Reform könnte dazu dienen, Studierende aus dem Labyrinth von Unmengen an Lernstoff und Selbstzweifeln zu führen. Sie könnte Grundlagenfächer und damit das Bewusstsein dafür stärken, welche Bedeutung das Recht für die Gesellschaft hat. Sie könnte Chancengleichheit befördern, indem Prüfungskomitees diverser besetzt würden. Und einiges mehr: Dazu etwa im iur.reform-Sofortprogramm.

Wenn der Bundesjustizminister ehrliches Interesse an der – noch dazu ohne Vergütung geleisteten – Arbeit von iur.reform hätte, wüsste er das. Dem Reformanliegen wurde nun einiges an Nerven und Freizeit geschenkt, von solchen, die eigentlich nur Jura studieren wollten. Angesichts der dystopisch anmutenden Zustände entschieden sie sich für ehrenamtliches Engagement neben, nach dem und für dieses Studium. Dies auch, weil sie die kollektive Verantwortung erkannten, neue Studierende vor erwartbaren psychischen Schäden zu schützen. Der Einsatz wird nicht unbezahlt bleiben: „Das ist schon immer so gewesen“ ist schlichtweg argumentativer Rost ohne Überzeugungskraft. Die juristische Ausbildung in Deutschland muss sich ändern. Das ist definitiv keine Mindermeinung! Genau wie der Fakt, dass das Möglichkeitsfenster dafür, dem Klimawandel etwas entgegenzusetzen, immer und immer kleiner wird (dazu: IPCC, 2023: Summary for Policymaker).

Bevor sich im Streit um Strategien verloren wird, kann gefragt werden, woher der Drang zu ausgefallenen Aktionen kommt. Wenn ein ernsthafter Prozess der Veränderung durch eine unaufgeregte Versammlung zwischen Blue Jeans und Pappschildern angeregt werden könnte, dann wären darüberhinausgehende Überlegungen zur Taktik schlicht hinfällig. Denn dann stände das Auffinden konkreter Lösungen im Vordergrund der öffentlichen Debatten: Schweiß perlt über eine zerknitterte Stirn, Kleber auf Handinnenflächen. Über New York färbt der Himmel sich orange, auch der Berliner Sommer wird heiß. Nackte Kinderfüße springen durch Gras, ihre Eltern sitzen daneben, ihre Zukunft liegt auf Eis. Und in der Bibliothek kommt es einigen so vor, als kämen nicht nur die Examensprüfungen, sondern auch die Wände näher.

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