Diskriminierungsfalle mündliche Staatsexamensprüfung: Sechs Forderungen für eine gerechtere Prüfungspraxis

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Noch heute begegnen Personen mit zugeschriebenem Migrationshintergrund und Frauen* in den mündlichen Prüfungen der juristischen Staatsexamina Diskriminierungspotentiale, die dazu führen, dass sie unter vergleichbaren Voraussetzungen schlechter abschneiden als Männer ohne zugeschriebenen Migrationshintergrund. Verglichen mit der schriftlichen Benotung treten dort Geschlechts- und Herkunftseffekte besonders deutlich zutage.

Um diesem Missstand entgegenzuwirken, haben Charlotte Heppner, Nora Wienfort und Sophia Härtel aus dem Arbeitsstab Ausbildung und Beruf des Deutschen Juristinnenbundes die Ausbildungsgesetze und -verordnungen der Länder analysiert und Antworten der Justizprüfungsämter aller Bundesländer zu ihren jeweiligen Antidiskriminierungsmaßnahmen ausgewertet (Heppner/Wienfort/Härtel, ZDRW 2022/1, 23). Auf dieser Grundlage haben sie sechs Forderungen erarbeitet, die als Hilfsmittel für eine diskriminierungsfreie und leistungsorientierte Ausgestaltung der mündlichen Prüfung dienen sollen.

Kernforderungen stellen die veränderte Besetzung der Prüfungskommissionen, verpflichtende Schulungen, die Abschaffung von Vorgespräch und Vornotenkenntnis der Prüfenden, genauere Vorgaben zur Bewertung der Leistung und verbesserte Beschwerde- und Kontrollmöglichkeiten dar. Mit diesem Beitrag möchten wir die Ergebnisse zusammenfassen und die Forderungen unterstreichen.

1. Geschlechtergerechte Besetzung der Prüfungskommissionen

Seit dem Erscheinen der Studie ist anerkannt, dass die Partizipation weiblicher Prüferinnen in der Prüfungskommission dazu führt, dass geprüfte Frauen* mit gleicher schriftlicher Prüfungsleistung die gleiche Chance wie ihre mitgeprüften männliche Kandidaten haben, in die nächste Notenstufe zu fallen. Ist die Prüfungskommission hingegen rein männlich besetzt, haben männliche Kandidaten bessere Chancen, sich notenmäßig zu verbessern, als weibliche Kandidatinnen. Vor dem Hintergrund dieses Befundes muss die Forderung also klar lauten: Prüfungskommissionen sollten immer auch mit Frauen* besetzt sein.

Die Prüfungsrealität ist im Hinblick auf das Geschlechterverhältnis in den Prüfungskommissionen jedoch weit von diesem Zustand entfernt: Die Untersuchung hat ergeben, dass im mündlichen Teil der juristischen Staatsexamina überwiegend Männer prüfen. Das Geschlechterungleichgewicht zeigt sich bereits im sogenannten „Prüfer-Pool”. Hier finden sich mehrheitlich Männer. Zwar bemühen sich alle Prüfungsämter um gemischtgeschlechtlich besetzte Prüfungskommissionen, jedoch reicht das Anwerben von Frauen durch gezieltes Ansprechen potenzieller Prüferinnen nicht aus. Es bedarf stattdessen verbindlicher Quotenregelungen sowie einer höheren Vergütung, um das Ziel einer geschlechtergerecht besetzten Prüfungsbank zu erreichen.Darüber hinaus sollten Prüfende aus dem öffentlichen Dienst für eine mündliche Prüfung von ihrer Haupttätigkeit freigestellt werden.

In Nordrhein-Westfalen soll im Rahmen der JAG-Reform (JURios berichtet) laut Koalititonsvertrag jetzt zumindest die Verpflichtung eingeführt werden, dass jede Prüfungskommission für die mündlichen Staatsprüfungen mindestens auch eine weibliche Prüferin umfassen soll.

2. Verpflichtende Schulungen

Zur Sicherung einer qualitativ hochwertigen und diskriminierungsärmeren Prüfungspraxis sollten Justizprüfungsämter verpflichtende Schulungen und Fortbildungen für Prüfende bereitstellen. Nach Abfrage bieten zwar gegenwärtig alle Prüfungsämter Schulungen für Prüfende an, diese sind jedoch weder verpflichtend noch Voraussetzung dafür, als prüfende Person tätig werden zu können. Zum Inhalt dieser Fortbildungen haben sich die Landesjustizprüfungsämter nur vereinzelt geäußert. Auch liegen uns keine Informationen dazu vor, ob Themen wie Diskriminierung und unconscious bias Inhalt der Fortbildungen sind.

Wünschenswert wären Anti-Bias-Trainings und Angebote für Prüfende, die ihnen das entsprechende Handwerkszeug vermitteln, um Diskriminierungen und unbewussten Vorurteilen in Prüfungen entgegenzuwirken. Dazu gehört auch die Vermittlung von gendersensibler Prüfungsdidaktik. Schließlich könnten die beschriebenen Geschlechtseffekte bei der Notenverteilung in den juristischen Prüfungen auch auf eine zu geringe Gendersensibilität der Prüfenden zurückzuführen sein. Um die Übernahme von Prüfungstätigkeiten für Personen mit Sorgeverpflichtungen, also in erster Linie Frauen, nicht unattraktiv zu gestalten, sollten Prüfende für diese Schulungen von ihren Arbeitsaufgaben freigestellt bzw. für den Zeitaufwand angemessen vergütet werden.

Wie wichtig das ist, zeigt sich beispielsweise an den Übungsfällen im Studium, die noch immer diskriminierende Geschlechter-Klischees enthalten und nicht gendersensibel formuliert werden. Darauf weist z.B. der Blog üblenachlese des djb und ein offener Brief des Fachschaftsrats der Europa-Universität Viadrina hin.

3. Abschaffen des Vorgesprächs

In nahezu allen Bundesländern werden die Kandidat:innen unmittelbar vor der Prüfung zu einem Vorgespräch mit dem: der Prüfungsvorsitzenden eingeladen. Häufig wird vorgetragen, das Vorgespräch solle dazu dienen, der vorsitzenden Person Wissen über die Kandidat:innen zu verschaffen, die Persönlichkeit der zu Prüfenden kennenzulernen und die Prüflinge auf die Prüfung vorzubereiten.

Die Kenntnis um die Person des Prüflings könnte jedoch zu einer Verstärkung des unconscious bias der Prüfenden führen. Inwiefern die Kenntnis der Lebensstationen sowie der Persönlichkeit der Prüflinge maßgeblich für die spätere Bewertung ihrer juristischen Fähigkeiten in der mündlichen Prüfung sein soll, lässt die Vorgabe nicht erkennen. Nützlich kann ein Vorgespräch allenfalls dann sein, wenn es die Gelegenheit bietet, auf formale oder organisatorische Punkte einzugehen, zum Beispiel auf mögliche Prüfungshindernisse, den Prüfungsablauf oder auf eine mögliche mündliche Begründung der Bewertung, was allerdings auch direkt vor Beginn der Prüfung geleistet werden könnte. Vorgespräche, deren Inhalt darüber hinausgeht, sind angesichts ihres erheblichen Diskriminierungspotentials abzuschaffen.

4. Abschaffen der Vornotenkenntnis 

In allen Bundesländern sind der Prüfungskommission während der mündlichen Prüfung die Bewertungen der schriftlichen Leistungen der Kandidat:innen bekannt. Diese Vornotenkenntnis verstärkt die Folgen von Diskriminierungen in mündlichen Prüfungen erheblich und ist daher abzuschaffen.

Diesen „Ankereffekt“ hat die Juristin und Diplompsychologin Alica Mohnert auch als höchst problematisch bei der Benotung der schriftlichen Examensklausuren durch Erst- und Zweitkorrektor:innen ausgemacht (JURios berichtet).

Durch die Vornotenkenntnis kommt der Bewertung der mündlichen gegenüber der schriftlichen Leistung eine Relevanz zu, die die jeweils gesetzlich festgesetzte Prozentzahl übersteigt, denn Prüfende bewerten die mündliche Prüfung regelmäßig mit Blick auf die damit erzielte Gesamtnote – in Abhängigkeit von den Vornoten. Dies scheint zunächst nicht problematisch, da Kandidat:innen von der Vornotenkenntnis häufig profitieren. Entscheidend ist jedoch, dass nicht alle Kandidat:innen die gleichen Chancen haben, von der Vornotenkenntnis zu profitieren, weil die mündliche Prüfung wegen der direkten Interaktion deutlich diskriminierungsanfälliger ist als die schriftlichen Prüfungen.

Zugunsten der Vornotenkenntnis wird teils vorgebracht, Prüfungsgruppen könnten so nach Leistung zusammengestellt und durch Vornotenkenntnis könne ein angemessenes Prüfungsniveau sichergestellt werden. Prüfenden sollte es innerhalb der zur Verfügung stehenden Zeit im Rahmen einer gut konzipierten Prüfung jedoch möglich sein, das Niveau der Fragen derart zu variieren, dass Fähigkeiten und Grenzen der Kandidat:innen deutlich werden. Auch könnte in Erwägung gezogen werden, die Prüfungsgruppen zwar weiterhin nach den Vornoten einzuteilen, den Prüfenden diese jedoch nicht mitzuteilen. So könnten die Prüflinge zwar innerhalb ihrer (vermeintlichen) Leistungsgruppe geprüft werden, für die Prüfenden jedoch entfiele das konkrete Diskriminierungspotential der Vornotenkenntnis.

5. Klare Maßstäbe für die Bewertung des Prüfungsgesprächs

Die Notengebung wird umso diskriminierungsanfälliger, je vager die Kriterien zur Bewertung in der mündlichen Prüfung sind. Zu der Bewertung des Prüfungsgesprächs gibt es in den Bundesländern aber nur wenige Vorgaben. Gesetzlich geregelt sind vor allem formale Fragen wie die Beschlussfassung innerhalb der Prüfungskommission, und die Gewichtung einzelner Prüfungsbereiche.

Es gibt jedoch kaum Leitplanken für die tatsächliche Beurteilung der Kandidat:innen. Im Rahmen des sogenannten Pflichtstoffkatalogs obliegen nahezu alle relevanten Entscheidungen der jeweiligen Prüfungskommission: die Auswahl des Prüfungsstoffs im Einzelnen, die Gewichtung der Antworten oder der Schwierigkeitsgrad der Prüfung.

Es bedarf daher klarer Maßstäbe für die Bewertung des Prüfungsgesprächs, um sie von biases so weit wie möglich freizuhalten. Entscheidend ist, dass Prüfende mögliche unconscious biases reflektieren und ihre Eindrücke durch eine sorgfältige Dokumentation während der Prüfung selbst überprüfen können. Denkbar wäre etwa, zulässige und nicht zulässige Bewertungskriterien genauer vorzugeben. Prüfende sollten ihre vor der Prüfung entworfenen Fragen im Vorhinein verschiedenen Schwierigkeits- und damit erreichbaren Notenstufen zuteilen, um die Antworten der Kandidat:innen auf unterschiedliche Fragen vergleichbar zu machen. Die Justizprüfungsämter könnten außerdem Bewertungsbögen zur Verfügung stellen, auf denen die Prüfenden bereits vor der Prüfung einschlägige Bewertungskriterien festlegen können. Darüber hinaus haben die Justizprüfungsämter die Möglichkeit, Vorgaben in Handreichungen oder Leitfäden festzulegen, wie sie beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern und Nordrhein-Westfalen – jeweils aber ohne Hinweise auf eindeutige Bewertungsmaßstäbe – bereits existieren.

6. Implementieren eines Beschwerde- und Kontrollsystems

Gegen die Bewertung in der mündlichen Prüfung können sich Kandidat:innen im Widerspruchs- und Klageverfahren zur Wehr setzen. Dies ist jedoch mit hohen Hürden verbunden. Ein besonderes Hindernis besteht zudem darin, dass die betroffene Person die Begründung der Bewertungsentscheidung benötigt, um ihr substantiierte Einwendungen entgegenbringen und sich damit erfolgreich gegen sie wehren zu können. Diese Begründung liegt in der Prüfungspraxis in den meisten Fällen nicht vor.

Um die Bewertungsentscheidung jedoch überhaupt einer Überprüfung zugänglich zu machen, müssen die Prüfenden dazu verpflichtet werden, ihre Bewertungsentscheidung zu begründen. Die Prüfungsämter sollten zudem weitere Beschwerdemöglichkeiten sowie der Prüfung nachgelagerte Mediationsangebote einrichten, denn das Widerspruchsverfahren zielt in erster Linie auf die Notenverbesserung ab. Diskriminierungsfälle sind indes häufig komplexer gelagert und schwieriger greifbar: An wen kann sich eine geprüfte Person wenden, wenn sie das Gefühl hat, dass ein persönliches Fehlverhalten einer:s Prüfenden vorlag? Wenn die Aufgabenstellung in der mündlichen Prüfung sexistisch oder rassistisch konnotiert war? Von Diskriminierung Betroffenen muss die Möglichkeit gegeben werden, sich schriftlich oder mündlich bei einer unabhängigen Stelle zu beschweren. Regelmäßige Prüfungsbesuche durch andere Prüfende könnten zusätzlich langfristig eine bessere Vergleichbarkeit von Prüfungen fördern.

Zu begrüßen ist an dieser Stelle – abseits der Problematik in der mündlichen Prüfung – der Vorstoß der Universität Münster, die ein Meldesystem für diskriminierende Sachverhalte im Jurastudium eingerichtet haben.

Fazit: Verbindliche Regelungen notwendig!

Diskriminierende Staatsprüfungen sollten aus mehreren Gründen beunruhigen: Erstens befinden sich Kandidat:innen in Prüfungen in besonderem Maße in einer grundrechtssensiblen Situation. Aus dem Schutz ihrer Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG), dem Grundsatz der Chancengleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) und dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) leiten sich die Grundpflichten der Fairness und Sachlichkeit ab, denen Staatsprüfende unterliegen. Zweitens konterkarieren Diskriminierungen in Prüfungen den Prüfungszweck. Ziel von Prüfungen ist es, Leistungen abzufragen und zu bewerten. Drittens ist dies deswegen besonders gravierend, weil die Staatsexamensnote von zentraler Bedeutung für das spätere Berufsleben ist.

Die Reaktionen der Justizprüfungsämter auf die Anfragen, die von den Mitgliedern des Arbeitsstabs im Rahmen ihrer Untersuchung gestellt wurden, haben gezeigt, dass diese folgenreiche Problemlage dort, ebenso wie die Glöckner/Towfigh/Traxler-Studie, zumindest bekannt ist. Diese Erkenntnis spiegelt sich jedoch nicht in der Regelungswirklichkeit wider. Es ist an uns allen, den Diskurs weiterzubringen. In Anbetracht der weitreichenden Konsequenzen für die Betroffenen muss jede Art ungerechtfertigter Benachteiligung und Privilegierung im Rahmen der mündlichen Prüfung vermieden werden. Dies ist jedoch nur mittels verbindlicher Regelungen möglich. Wie diese aussehen könnten, haben Charlotte Heppner, Nora Wienfort und Sophia Härtel vorgelegt. Jetzt ist es Aufgabe der Länderpolitik, ihrer Behörden und Legislativen, entsprechend zu handeln.


Ein Gastbeitrag von Rahel Meinhof und Nergis Zarifi, Arbeitsstab Ausbildung und Beruf, Deutscher Juristinenbund e.V. Es handelt sich um eine leicht gekürzte Fassung des in der djbZ 3/2022, 145-148 erschienenen Artikels.

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