Die Aufarbeitung der Kieler Schule – noch lange kein abgeschlossenes Kapitel

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Die Kieler Rechtswissenschaftliche Fakultät hat, geschichtlich bedingt, eine besondere historische Verantwortung. Umso schlimmer ist es, dass bei einem Quiz in der Orientierungswoche 2022 nur einige wenige Studierende in der Lage waren, die Frage zu beantworten, was die Kieler Schule eigentlich ist. Offenbar ist vielen nicht bewusst, dass ihre Fakultät im System der Nazis eine besondere Rolle spielte. Bis jetzt wird dieses Thema nur von wenigen Professor:innen behandelt. Ein Professor, der sich immer wieder für die weitere Aufarbeitung einsetzt, ist Prof. Meyer-Pritzl, insbesondere mit seiner Lehre zur Rechtsgeschichte. Dass das Erbe der Kieler Schule jedoch in alle Rechtsgebiete ausstrahlt, scheint in der sonstigen Lehre bis jetzt eher Nebensache zu sein.

Aber was ist die Kieler Schule überhaupt?

Der Begriff „Kieler Schule“ bezeichnet die Lehren von nationalsozialistischen Rechtswissenschaftlern an der Uni Kiel. Ab 1933 wurden in Kiel vor allem jüdische, aber auch andere – politisch unliebsame – Professoren systematisch vertrieben und durch systemtreue Rechtswissenschaftler ersetzt. Das Ziel war die Einrichtung einer sogenannten “Stoßtruppfakultät”, die das nationalsozialistische (Un-)Recht reformieren und in der Bundesrepublik verbreiten sollte. 

Ein besonders prominentes Beispiel ist die Neubesetzung der Professorenstelle von Hermann Kantorowicz. Kantorowicz war überzeugter Demokrat, von den Nazis als jüdisch gebrandmarkt und durch sein Gutachten zur Kriegsschuldfrage aufgefallen, in dem er Deutschland zumindest eine Teilschuld am Ausbruch des 1. Weltkriegs zusprach. Als einer der ersten Professoren wurde er nach der Machtergreifung zwangsweise in den Ruhestand versetzt. Seine Stelle ging an Georg Dahm, einen schon früh der NSDAP beigetretenden Strafrechtler, Mitentwickler der sog. Tätertypenlehre, sowie ab November 1933 Mitglied der Sturmabteilung (SA). Seine Aufgabe war es, durch das neue, dem nationalsozialistischen Geist entsprechenden Strafrecht, die rechtlichen Grundlagen für politisch motivierte Verurteilungen zu schaffen. Zudem wurde durch die Berufung von prominenten, systemtreuen Professoren der Standort Kiel auch für weitere Rechtswissenschaftler interessant, die sich mit dieser Ideologie identifizieren konnten.

Warum gerade Kiel? Zum einen entschied sich die politische Führung der Nationalsozialisten, solche Stoßtruppfakultäten wie Kiel an den „Grenzlanduniversitäten“ einzurichten. Ein weiterer Standort war die Universität Breslau. Damit sollte das neue Recht möglichst schnell auch in angrenzende (besetzte) Länder getragen werden. Kiel galt zum anderen seit der Novemberrevolution 1918 als “rote Hochburg” von SPD und Kommunisten, ein Status, welchen es nach Auffassung der Nationalsozialisten umzukehren galt.

Lehren für die Zukunft?

Es stellt sich also für die aktuelle Rechtswissenschaft die Frage, welche Lehren an der Uni Kiel aus dieser Zeit gezogen wurden. Was aus heutiger Sicht besonders schockiert: in den 1950ern kam es in Kiel zu einer “Renazifizierung”. So wurde Georg Dahm (s.o.), nachdem er im Zuge der Entnazifizierung zunächst nicht mehr in Deutschland lehren durfte, schon 1955 wieder als Professor nach Kiel berufen. Auch andere Hochschullehrer durften später, auch wenn oft zu anderen Themen, ihre Lehre wieder aufnehmen. Eine Aufarbeitung war lange faktisch nicht möglich, da belastete Professoren die Forschung zu dem Thema, nicht nur in Kiel, bis in die 1980er behinderten.

Gerade vor diesem Hintergrund haben wir als Kieler Jurastudierende eine große Verantwortung. In einer Zeit, in der Zeitzeugen aussterben, ist die wissenschaftliche Forschung und weitere Aufarbeitung von größter Bedeutung. Wie kann man in Kiel studieren und zum Teil Lehren von Nazi-Rechtswissenschaftlern (z.B. Tätertypen im Strafrecht) unkritisch gelehrt bekommen? Was wir brauchen, ist ein fächerübergreifendes Bewusstsein, nicht zuletzt, um auch weiter kritische Forschung zur NS-Vergangenheit der Rechtswissenschaft zu fördern. Wir begrüßen die Neufassung von § 5a DRiG, die ausdrücklich die Auseinandersetzung mit diesen Themen zum Gegenstand des Jurastudiums erklärt. Das neue Gesetz für sich scheint jedoch nicht besonders wirkungsvoll, wenn die Lehre weiterhin kaum Interesse an dessen Umsetzung zeigt.

Generell sollte die Rechtswissenschaftliche Fakultät sicherstellen, dass Studierende zumindest den Begriff der Kieler Schule kennen und einordnen können, auch wenn sie nicht die, oft freiwilligen, rechtsgeschichtlichen Vorlesungen besuchen. Denkbar wäre ein Mahnmal am Juridicum, welches zwar geplant, aber bis jetzt leider noch nicht umgesetzt wurde, sowie die Einführung von regelmäßigen Informationsveranstaltungen für die neuen Studierenden. Das Studium der Rechtswissenschaften in Kiel sollte im Bewusstsein der historischen Verantwortung geschehen, dass von Kiel aus die „Kieler Schule“ durch die Pervertierung des Rechts zu einem Wegbereiter der Ideologie des Nazi-Regimes wurde. Die Aufarbeitung geht uns alle an. Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus.


Die Autorin ist Mitglied im Arbeitskreis Kritischer Jurist*innen Kiel

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Johanna Krause
Johanna Krause
Mitglied des Arbeitskreises Kritischer Jurist*innen (AKJ) Kiel.

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