Notendifferenzen im Jurastudium: Korrektor:innen bewerten die gleiche Klausur einmal mit 5 und einmal mit 9 Punkten

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Schon lange machen Jurastudierende – aber auch Juraprofessor:innen – darauf aufmerksam, dass die Art und Weise wie juristische Klausuren bewertet werden, höchst problematisch ist. Ein Doktorand der LMU München hat jetzt 230 Klausurkorrekturen ausgewertet, um diese Missstände empirisch zu untersuchen.

Jede:r kennt es aus dem Jurastudium: Man tauscht sich beim Verfassen einer Hausarbeit intensiv aus, doch am Ende hat der eine Kommilitone 5 Punkte und der andere 9. Für fast exakt die gleiche Ausarbeitung. Dass es sich dabei um keine Einzelfälle handelt, vermuten Personen, die sich mit Reformvorschlägen für die juristische Ausbildung befassen, schon lange. Der Beweis, in welchem Umfang es zu ungerechtfertigten Abweichungen bei der Notenvergabe kommt, fällt jedoch schwer. Spricht man Juraprofessor:innen darauf an, heißt es meistens, es sei ja nicht exakt die gleiche Klausur/Hausarbeit abgegeben worden. Schon kleine Abweichungen oder ein besserer Sprachstil würden die Notendifferenzen oft rechtfertigen. Angeblich.

Durchschnittliche Abweichung von 6,5 Punkten

Bei einer Notendifferenz von 1-3 Punkten mag dies auch tatsächlich überzeugen. Es kommt jedoch auch zu so krassen Differenzen, dass eine Person die Klausur nicht bestanden hat (3 Punkte), während eine andere Person dafür die Auszeichnung „Prädikat“ (9 Punkte) erhält. Kann das wirklich sein? Und ist das fair? Vor allem im Staatsexamen hängt von der Note (leider noch immer) die berufliche Zukunft der Studierenden ab. Wer die 4 Punkte nicht schafft, steht mit Ende 20 ohne Abschluss da. Wer das Prädikatsexamen verfehlt, kann unter Umständen nicht in den Staatsdienst oder hat finanzielle Einbußen, weil aus der geplanten Karriere in der Großkanzlei nichts wird.

Clemens Hufeld von der LMU München wollte diesem Phänomen empirisch auf den Grund gehen. Dazu bat er 23 Korrektor:innen, insgesamt 15 Klausuren zu korrigieren. Die Ergebnisse der 230 Korrekturen analysierte Hufeld. Er selbst nennt seine Ergebnisse „bedenklich“.

Denn: Der durchschnittliche Unterschied zwischen der niedrigsten und der höchsten Note, die für die (gleiche) Klausur vergeben wurde, betrug 6,47 Punkte. In einer Klausur kam es sogar zu einer Abweichung zwischen 4 und 14 Punkten. Die Korrekturergebnisse für dieselbe Klausur lagen nur bei durchschnittlich 42% der Korrekturen innerhalb derselben Notenstufe.

Hufeld fragt zu recht: „Sind Bewertungen von Anfängerklausuren mit durchschnittlichen Abweichungen über ein Drittel der Notenskala sinnvoll? Was wollen wir Anfängern im Studium mitgeben, wenn ihre Note nicht (nur) von ihrer geschriebenen Klausur abhängt? Werden Klausuren in Jura fair benotet?“

Objektivität, Validität, Reliabilität

Gleichzeitig betont Hufeld aber auch, dass seine Ergebnisse „nicht vorschnell auf die Prüfungspraxis verallgemeinert werden“ sollten. Es bedürfte weiterer Forschung. Hufeld wertete Korrekturen einer Anfängerklausur (drittes Semester) im Verwaltungsrecht der LMU München aus. Er betont, dass dieser Versuch auch bei Klausuren auf Examenslevel wiederholt werden müsste, bevor man aussagekräftige Schlüsse ableiten könne.

Dabei stelle juristische Prüfungen psychologische Tests dar. Damit eine kausale Verbindung zwischen Noten und juristischem Können aufrechterhalten werden kann, muss das juristische Testmodell drei Hauptgütekriterien erfüllen: Objektivität, Validität und Reliabilität. An der Objektivität fehlt es laut der Studie von Hufeld:

Die Ergebnisse würden zeigen, dass die Klausurbewertung in sehr geringem
Maß objektiv seien, sondern vielmehr von der korrigierenden Person abhingen.
Es gäbe zum einen Korrektor:innen, die im Durchschnitt generell höhere oder niedrigere Noten vergeben. Zum anderen gäbe es Klausuren, die manchen Korrektor:innen – unabhängig von deren sonstigem Korrekturverhalten – besonders gut oder besonders schlecht gefallen.

Als Ursache für die großen Differenzen benennt Hufeld zwei Gründe: Zum einen die Unklarheit über den Prüfungsgegenstand („Was bedeutet juristisches Können?“) und zum anderen Unklarheit über den Prüfungsmaßstab („Welcher Klausurinhalt ist „vollbefriedigend“, welcher „ausreichend“, etc.?“). Dies bedürfe weiterer Erforschung.

Hufeld ruft alle an der juristischen Ausbildung Beteiligten deswegen dazu auf, sich verstärkt mit Rechtsdidaktik zu befassen. „Wegen des hohen Prüfungsdrucks ist Prüfungsdidaktik in Jura ein Bereich, der für die juristische Ausbildung unerlässlich ist. Ich möchte euch alle dazu ermuntern und aufrufen, hierzu zu forschen und zu publizieren, am besten interdisziplinär!“

Was tun?

Hufeld selbst nennt Rufe nach einer radikalen Veränderung des Prüfungssystems “verfrüht”. Ohne die wissenschaftliche Untermauerung mit Daten zur aktuellen Prüfungsform und alternativen Prüfsystemen, wäre laut ihm “jede politische Entscheidung ein Stochern im Nebel auf Kosten der Studierenden und der Rechtsstaatlichkeit”.

Trotzdem existieren bereits einige Reformvorschläge. Eine Möglichkeit wäre, eine intensivere Auswahl und Vorbereitung der Korrektor:innen. Diese sollten in der juristischen Didaktik geschult werden. Korrektor:innen an der Uni und im Staatexamen sollte zudem eine ausführliche Musterlösung an die Hand gegeben werden. Am besten mit Schwerpunktsetzung sowie Vorschlägen für abweichende Lösungen.

Expert:innen (z.B. Prof. Griebel/Schimmel) fordern außerdem seit Jahren die Einführung einer sog. verdeckten/blinden Zweitkorrektur im Staatsexamen. Das bedeutet, dass der:die Zweitkorrektor:in die Benotung des:der Erstkorrektor:in nicht kennt. Nur so kann gewährleistete werden, dass sich der:die Zweitkorrektor:in nicht (unbewusst) vom Ergebnis der ersten Korrektur beeinflussen lässt (sog. Anker-Effekt). Für große Notendifferenzen muss zudem ein faires Verfahren gefunden werden. Einfach den Mittelwert beider Benotungen zu nehmen, ist nicht unbedingt ausreichend.

Es gibt also durchaus Ansätze, diesem Problem zu begegnen. Sie müssen aber offen diskutiert und sinnvoll in der Praxis implementiert werden. Hierfür setzt sich auch das Projekt iur.reform ein.


Fundstelle: Hufeld, ZDRW 1/2024, S. 58 ff.
Datengrundlage: https://github.com/chufeld/juristischeNotengebung



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