Wiederaufnahme eines Strafverfahrens zuungunsten des Freigesprochenen gemäß § 362 Nr. 5 StPO verfassungswidrig

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Gemäß § 362 Nr. 5 StPO ist die Wiederaufnahme eines, durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zuungunsten des Angeklagten zulässig, sofern neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe dafür bilden, dass der freigesprochene Angeklagte wegen Mordes gemäß § 211 StGB, Völkermordes nach § 6 Abs. 1 des Völkerstrafgesetzbuches, des Verbrechens gegen die Menschlichkeit gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 1 und 2 oder Kriegsverbrechens gegen eine Person nach § 8 Abs. 1 Nr. 1 des Völkerstrafgesetzbuches verurteilt wird.

Dies war zumindest noch bis vor wenigen Tagen der Fall – denn mit dem Urteil vom 31. Oktober 2023 (Az. 2 BvR 900/22) erklärt das Bundesverfassungsgericht die entsprechende Regelung in der Strafprozessordnung (StPO) für verfassungswidrig.

Hintergrund – Der Mordfall Frederike von Möhlmann

Die damals 17-jährige Frederike von Möhlmann war Schülerin des Kaiserin-Auguste-Viktoria-Gymnasiums in Celle. Am Abend des 4. November 1981 wollte sich die junge Frau, nach einer Chorprobe, vermutlich per Anhalter auf den Nachhauseweg begeben, doch dort ist sie nie angekommen. Vier Tage nach ihrem Verschwinden wurde ihre Leiche in einem Waldstück gefunden – Frederike wurde vergewaltigt und anschließend ermordet.

Als Tatverdächtiger wurde seinerzeit Ismet H. ermittelt, ein junger Mann, der damals in Celle lebte. Das Landgericht Lüneburg (Niedersachsen) verurteilte den heute 64-jährigen am 1. Juli 1982 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe.

1983, nur ein Jahr nach der Verurteilung, wurde das Urteil vom Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe aufgehoben. Der BGH gab den Fall an das Landgericht Stade, welches Ismet H. am 13. Mai 1983 freisprach.

Inkrafttreten des § 362 Nr. 5 StPO – trotz Bedenken des Bundespräsidenten

Im Juni 2021 beschloss der Bundestag nach einem Entwurf der Koalitionsfraktionen, CDU/CSU und SPD, die Änderung des § 362 StPO.

Sie bezeichneten die geplante Reform als „Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit“, nach dem zukünftig, gemäß der Nr. 5 eine Wiederaufnahme zuungunsten des Verurteilten auch dann zulässig sei, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen dringende Gründe dafür bilden, dass der freigesprochene Angeklagte wegen Mordes oder eines Kriegsverbrechens zu verurteilen sei.

Beispiele für die oben bezeichneten neuen Tatsachen oder Beweismittel können Filmaufzeichnungen der Tat oder DNA-Analysen sein, die erst nach dem Freispruch sichergestellt, oder auf Grund der damaligen fehlenden wissenschaftlichen Erkenntnis zum Zeitpunkt des Freispruchs nicht berücksichtigt werden konnten.

Bis zu der Reform konnte ein Strafverfahren zum Nachteil des Freigesprochenen gemäß § 362 StPO nur dann wieder aufgenommen werden, sofern ein besonderer Härtefall zugrunde lag – beispielsweise, wenn der Freigesprochene später ein Geständnis über seine Tat ablegte oder es sich herausstellte, dass eine vorgebrachte Urkunde zugunsten des Angeklagten gefälscht worden war.

Gegen den Entwurf und dem Inkrafttreten am 30. Dezember 2021 wurden verfassungsrechtliche Bedenken im Hinblick auf Art. 103 Abs. 3 GG und den darin enthaltenen Grundsatz „ne bis in idem“ (lat. „nicht zweimal in derselben Sache“) geltend gemacht. Der Grundsatz besagt, dass niemand wegen derselben Handlung zweimal bestraft werden darf und untersagt gleichzeitig, eine erneute Strafverfolgung, im Falle eines vorangegangenen Freispruchs. Daher wird er auch als „Verbot der Doppelbestrafung“ bezeichnet.  

Der Bundesrat stimmte der Gesetzesänderung am 17. September 2021 dennoch zu, obwohl das Gesetzesvorhaben nicht vom Bundesjustizministerium unterstützt wurde. Jedoch zeichnete Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier das Gesetz aufgrund oben genannter Bedenken, hinsichtlich eines möglichen Verstoßes gegen das Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 3 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) und das Verbot der Doppelbestrafung (Art. 103 Abs. 3 GG), zunächst nicht gegen (vgl. Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG).

Am 22. Dezember 2021 unterzeichnete er das Gesetz letzten Endes dann doch – stieß aber zugleich an, das Gesetz im Bundestag erneut zu prüfen.

Wiederaufnahme des Verfahrens – 40 Jahre nach der Ermordung

2012 wurden die Beweisstücke, nachdem der Vater der Ermordeten darauf gedrängt hatte, erneut untersucht – mithilfe einer DNA-Untersuchung, die in den 1980er-Jahren technisch noch nicht mögliche war.

Infolge des durchgeführten molekulargenetischen Gutachtens des Landeskriminalamtes Niedersachen und der daraus resultierenden Übereinstimmung der DNA des damals Angeklagten und der nach dem Verbrechen sichergestellten DNA-Spur – einer Spermaspur am Slip der Getöteten – könnte Ismet H. doch der gesuchte Täter sein. Zu einer Wiederaufnahme des Strafverfahrens kam es trotz der neugewonnenen Erkenntnis jedoch nicht, da es zu diesem Zeitpunkt die neue Wiederaufnahmemöglichkeit noch nicht gab.

Im Februar 2022 beantragte die Staatsanwaltschaft Verden, nach dem Inkrafttreten des § 362 Nr. 5 StPO, die Wiederaufnahme des Strafverfahrens gegen Ismet H. – gestützt auf den Ergebnissen der DNA-Analyse aus dem Jahre 2012.

Das Landgericht Verden erklärt mit Beschluss vom 25. Februar 2022 die Wiederaufnahme des Verfahrens für zulässig und ordnete gegen Ismet H. Untersuchungshaft an – diese Entscheidung wurde vom Oberlandesgericht Celle im April des gleichen Jahres bestätigt.

Ismet H. legt Verfassungsbeschwerde ein

Gegen die Beschlüsse des Landgericht Verden und Oberlandesgericht Celle, sowie mittelbar gegen den § 362 Nr. 5 StPO legte der Beschuldigte Verfassungsbeschwerde gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a und 4b, §§ 90 ff. BVerfGG beim Bundesverfassungsgericht ein und macht eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 103 Abs. 3 GG und Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG geltend.

Hinsichtlich des Antrag des Beschwerdeführers Ismet H. – auf Erlass einer einstweiligen Anordnung – hat der Senat den Vollzug des Haftbefehls des Landgerichts Verden vom 25. Februar 2022 mit dem Beschluss vom 14. Juli 2022 und wiederholt mit dem Beschluss vom 20. Dezember 2022, unter Auflagen ausgesetzt (vgl. Pressemitteilungen Nr. 62/2022 und Nr. 111/2022).

Die einstweilige Anordnung wurde mit dem Beschluss vom 16. Juni 2023 ohne Auflagen verlängert (vgl. Pressemitteilung Nr. 57/2023).

Urteil des BVerfG

Fast auf den Tag genau 42 Jahre nach dem Todestag von Frederike von Möhlmann, hat das Bundesverfassungsgericht am 31. Oktober 2023 die Reform des § 362 Nr. 5 StPO aus dem Jahre 2021 gekippt und den Paragraphen für verfassungswidrig erklärt.

In dem Urteil (Az. 2 BvR 900/22) erklärt der Zweite Senat, dass das grundrechtsgleiche Recht in Art. 103 Abs. 3 GG dem Gesetzgeber die Regelung der Wiederaufnahme eines Strafverfahrens, zum Nachteil des Grundrechtsträgers, aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismitteln verbietet. Der Grundsatz „ne bis in idem“ gewährt dem Einzelnen Schutz, den jener als individuelle Rechtsposition geltend machen kann. Dieser Schutz kommt sowohl Freigesprochenen, als auch bereits Verurteilten geleichermaßen zu und steht einer erneuten Strafverfolgung entgegen – so das Bundesverfassungsgericht. Folglich wäre das in Art. 103 Abs. 3 GG gegenüber den Strafverfolgungsorganen statuierte Mehrfachverfolgungsverbot praktisch wirkungslos, sofern die einfachgesetzliche Ausgestaltung des § 362 StPO nicht nur eine erneute Strafverfolgung, sondern gegebenenfalls auch eine Verurteilung ermöglichen könnte.

Weiter heißt es, dass der Artikel dem Prinzip der Rechtssicherheit Vorrang vor dem Prinzip der materialen Gerechtigkeit gewährt – diese Vorrangentscheidung ist absolut. Außerdem zeigt der Art. 103 Abs. 3 GG „eine besondere Ausprägung des im Rechtsstaatprinzip“ (Art. 20 Abs. 2, 3, Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG) „wurzelnden Vertrauensschutzes“ auf. Ein Betroffener „soll und muss darauf vertrauen dürfen, dass er nach Abschluss eines regelgemäß durchgeführten strafgerichtlichen Verfahrens nicht nochmal wegen derselben Tat vor Gericht gestellt werden kann, sagt Prof. Dr. Doris König – Vizepräsidentin des BVerfG.

Ferner würde die Anwendung des § 362 Nr. 5 StPO – auf Verfahren, die bereits vor Inkrafttreten der Norm durch einen rechtskräftigen Freispruch abgeschlossen waren – das Rückwirkungsverbot nach Art. 103 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG verletzen (vgl. Az. 2 BvR 900/22). Das Bundesverfassungsgericht unterscheidet zwischen der „echten“ und „unechten“ Rückwirkung. Die „echte“ Rückwirkung betrifft einen bereits rechtkräftig abgeschlossenen Sachverhalt, und ist grundsätzlich verfassungsrechtlich unzulässig. Während die „unechte“ Rückwirkung an einen Sachverhalt anknüpft, der zwar in der Vergangenheit begonnen hat, aber noch nicht abgeschlossen ist, sodass eine Norm auf den gegenwärtigen Sachverhalt noch einwirken kann.

Vorliegend war das gegen Ismet H. geführte Strafverfahren aus dem Jahre 1983 bereits zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des § 362 Nr. 5 StPO rechtskräftig abgeschlossen, weswegen die Anwendung des § 362 Nr. 5 StPO eine „echte“ Rückwirkung impliziert – die nicht zulässig ist.  

Mithin ist § 362 Nr. 5 StPO mit dem Mehrfachverfolgungsverbot des Art. 103 Abs. 3 GG und dem Rückwirkungsverbot gemäß Art. 103 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG unvereinbar und somit nichtig.


Entscheidung: BVerfG, Urt. v. 31.10.2023, Az. 2 BvR 900/22

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