Der Gleichberechtigungsgrundsatz von 1949

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Eine rechtshistorische Skizze des langen Weges der rechtlichen Gleichberechtigung der Frau

Auf einer Couch sitzend trug ich meiner Stiefmama die Verteidigung meiner Seminararbeit vor. Es war ein Seminar zum Grundgesetz und ich schrieb über die frühe Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Artikel 3 Absatz 2 Grundgesetz. Es ging also um die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Nachdem sie mir nickend zuhörte, teilte sie ihre Gedanken mit mir. Sie konnte als Nicht-Juristin weniger fachliches Feedback geben, aber als Frau wusste sie wovon ich sprach: Ungleichbehandlung aufgrund unseres Geschlechts. Auch in mir löste die Recherche für mein Seminar viel aus. Ich war schockiert, erleichtert, traurig und stolz. Wir stellten fest, dass wir zur Gleichberechtigung noch viel zu sagen haben und das obwohl Männer und Frauen seit dem 23. Mai 1949 gleichberechtigt sind. Der neue Gleichberechtigungsgrundsatz beendete den Kampf um die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Oder?

Dieser Beitrag entstand im Rahmen des 5. juriosen Essay-Wettbewerbs “Frau im Recht” zum Internationalen Frauentag 2024. Es handelt sich um den dritten Platz in der Kategorie “Freitexte”. Weitere Informationen zum Essay-Wettbewerb und alle anderen Gewinner-Texte finden Sie hier: https://jurios.de/essay-wettbewerb/

Weimarere Reichsverfassung

Große Teile des im Deutschen Kaiserreich verfassten Bürgerlichen Gesetzbuches galten nach dem zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik.[1] Daher verwundert es kaum, dass insbesondere das Familien- und Eherecht stark von patriarchalen Strukturen geprägt war.[2] Ganz im Zeitgeist der 1890er Jahre stellte beispielsweise der Ehemann das Oberhaupt der Familie dar und trug die alleinige Entscheidungsbefugnis über alle ehelichen Angelegenheiten (§ 1354 BGB a.F. [1896]).

Mit Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung am 14. August 1919[3] sollte die Gleichberechtigung der Geschlechter jedoch auch nicht erreicht werden. Gemäß Artikel 109 Absatz 2 Weimarer Reichsverfassung waren Frauen und Männer zwar erstmals grundsätzlich gleichberechtigte Staatsbürger, aber das Wort „grundsätzlich“ sollte ein Hintertürchen für geschlechtsbezogene Ungleichbehandlungen offenhalten. Vordergründig ermöglichte diese Regelungen eine Eröffnung vieler Berufe auch für Frauen und motivierte diese zum Studium,[4] was die jahrzehntelange Debatte um die Zulassung weiblicher Studierender hätte lösen können. Das Frauen trotz dessen keine Selbstverständlichkeit an deutschen Universitäten waren, zeigte sich nicht zuletzt nach dem zweiten Weltkrieg. Frauen wurden erneut aus den Hochschulen gedrängt, um den zurückgekehrten Männern Platz zu machen.[5] Diese Entwicklung ist ein Paradebeispiel für die problematische Formulierung des Artikel 109 Absatz 2 Weimarer Reichsverfassung. Das Wort „grundsätzlich“ ermöglichte trotz staatsbürgerlicher Gleichheit die Anwendung des patriarchalen Familienrechts des Deutschen Kaiserreichs.[6] Die Weimarer Reichsverfassung zeigte also, dass eine gleichberechtigungskonforme Rechtsordnung nicht bloß an autokratischen Herrschaftsformen wie die des Deutschen Kaiserreiches oder Nationalsozialistischen Deutschlands scheiterte. Ohne stetiges politisches und bürgerliches Engagement sollte die Gleichberechtigung der Geschlechter nicht erreicht werden können.

Die vier Mütter des Grundgesetzes

Dies bewies unter anderem Elisabeth Selbert, eine der vier „Mütter“ des Grundgesetzes, die sich empört darüber zeigte, dass die Gleichberechtigung im Parlamentarischen Rat noch diskussionswürdig war.[7] Dank Selberts Engagement und Mobilisierung oppositionärer Kräfte wurde die Formulierung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ trotz Widerstand in Artikel 3 Absatz 2 Grundgesetz aufgenommen.[8] Damit verpflichtete sich der Gesetzgeber jegliche der Gleichberechtigung entgegenstehender Regelungen anzupassen. Um dies im Angesicht des überwiegend patriarchal strukturierten Familienrechts zu bewerkstelligen, räumte Artikel 117 Absatz 1 Grundgesetz dem Gesetzgeber eine Übergangsfrist zur gleichberechtigungskonformen Anpassung der Rechtsordnung ein.

Bis zum 31. März 1953 sollten jegliche geschlechtsspezifischen Ungleichbehandlungen angepasst werden. Nach knapp vier Jahren sollte die neugewonnene Gleichberechtigung also vollzogen sein. In vier Jahren wollte das erreicht werden, was seit Jahrhunderten so schwierig zu sein schien. Dies geschah leider aber erwartender Weise nicht, wie es uns die Geschichten unserer Großmütter bereits verraten. Bis zum 31. März 1953 wurde keine Neuregelung des Familienrechts geschaffen.[9] Das Bundesverfassungsgericht bestätigte jedoch im Dezember 1953 die unmittelbare Anwendbarkeit von Artikel 3 Absatz 2 Grundgesetz[10] und ermöglichte es somit den Zivilgerichten insbesondere das Familienrecht gleichberechtigungskonform anzuwenden, auch wenn eine Neuregelung dessen noch nicht stattgefunden hat.[11]

Hausfrauenehe und Stichentscheid des Vaters

Der Gesetzgeber versuchte trotz dessen erst im Jahr 1957 das Familienrecht gleichberechtigungskonform anzupassen, indem er das Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts (Gleichberechtigungsgesetz) verabschiedete.[12] Dieses Unterfangen als Versuch zu bezeichnen ist dabei kein Dysphemismus, da eine Gleichberechtigungskonformität um Längen verfehlt wurde. Beispielhaft dafür ist insbesondere die Hausfrauenehe und eine damit einhergehende geschlechtsspezifische Aufgabenteilung, welche auch im Jahr 1957 noch als Leitbild statuiert wurde und der Stichentscheid des Vaters, mit welchem dieser ein erzieherisches Letztentscheidungsrecht innehatte.[13]

Auch wenn letzteres im Jahr 1959 vom Bundesverfassungsgericht gekippt wurde,[14] zeigen diese Beispiele, dass die Gleichberechtigung noch keine Selbstverständlichkeit darstellte und immer noch an patriarchalen Strukturen festgehalten wurde. Auch die Neuerung im Namensrecht, dass die Ehefrau ihren Mädchennamen dem gemeinsamen Ehenamen (Name des Mannes) anfügen konnte,[15] zeigte ein klares Verständnis der Ehe: Der Ehemann vertrete die Familie und Ehe nach außen, wodurch sein Name die Familiengemeinschaft definiere.[16]

Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts

Das Versprechen eines gleichberechtigungskonformen Familienrechts konnte größtenteils erst im Jahr 1977 mit Inkrafttreten des Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts eingehalten werden.[17] Das Leitbild der Hausfrauenehe wurde vom Prinzip der Partnerschaftlichkeit abgelöst.[18] Die Ehefrau durfte ihre Berufstätigkeit nicht mehr wie bisher ausschließlich dann ausüben, wenn sie zeitgleich ihren ehelichen und familiären Pflichten nachkam.[19] Die Eheleute trugen von nun an die gemeinsame Verantwortung für die Haushaltsführung.[20] Weiterhin wurde das Verschuldensprinzip durch das Zerrüttungsprinzip im Scheidungsrecht ersetzt sowie der Versorgungsausgleich eingeführt.[21]

Doch auch dieses Gesetz schaffte es nicht, das Familienrecht gänzlich gleichberechtigungskonform anzupassen. Als Beispiel dafür lässt sich wieder das eheliche Namensrecht anführen: Gemäß § 1355 Absatz 2 Bürgerliches Gesetzbuch (Fassung von 1976) konnte sowohl der Geburtsname des Mannes, als auch der Geburtsname der Frau zum gemeinsamen Ehenamen gewählt werden. Aber auch hier hinterließ der Gesetzgeber patriarchale Strukturen: Konnten die Ehegatten sich nicht auf einen gemeinsamen Ehenamen einigen, wurde der Geburtsname des Mannes zum Familiennamen.[22] Diesen Stichentscheid des Mannes beseitigte das Bundesverfassungsgericht erst in seiner Entscheidung im Jahr 1991.[23] Die erste Gelegenheit dazu wäre die Entscheidung aus dem Jahr 1978 gewesen, in derer die Regelung zum Namensrecht in der Fassung von 1957 für nicht gleichberechtigungskonform und somit verfassungswidrig erklärt wurde.[24]

Patriarchale Politik

Daran lässt sich erkennen, dass obwohl das Bundesverfassungsgericht wiederholt gesetzliche Regelungen aufgrund geschlechtsspezifischer Ungleichbehandlungen kassierte,[25]dessen Entscheidungen nicht zuverlässig losgelöst vom  patriarchal geprägten Frauen- und Familienbild waren. Mit seiner Entscheidung zum Nachtarbeitsverbot aus dem Jahr 1992[26] prägte das Bundesverfassungsgericht trotz dessen unser heutiges Verständnis von Artikel 3 Absatz 2 Grundgesetz: Der Gleichberechtigungsgrundsatz geht über das geschlechtsbezogene Diskriminierungsverbot aus Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz hinaus, indem er ein „Gleichberechtigungsgebot aufstellt und dieses auch auf die gesellschaftliche Wirklichkeit erstreckt“ und somit „die Gleichberechtigung der Geschlechter [für die Zukunft] durchsetzen [will]“ (BVerfGE 85, 191 [207]). Dieses neue Verständnis von Artikel 3 Absatz 2 Grundgesetz wurde 1994 im Rahmen der Grundgesetznovelle in Artikel 3 Absatz 2 Grundgesetz durch die Ergänzung eines zweiten Satzes vom Gesetzgeber bestätigt.[27] Zudem wurden die Rechtfertigungsanforderungen an geschlechtsspezifische Ungleichbehandlungen verschärft, wodurch diese nur noch in Einzelfällen zulässig sind.[28]

Die Gleichberechtigung von Mann und Frau konnte demnach nicht bis 1953 erreicht werden, so wie es sich die „Väter und Mütter“ des Grundgesetzes vorstellten. Ganz im Gegenteil dauerte es bis in die 1990er Jahre, die Rechtsordnung größtenteils von geschlechtsspezifischen Ungleichbehandlungen zu befreien. Der Gesetzgeber musste auf diesem Weg immer wieder durch bundesverfassungsgerichtliche Entscheidungen „unterstützt“ und auf bestehende Ungleichbehandlungen, zumeist zulasten von Frauen, hingewiesen werden.

Unsere heutige Rechtsordnung weist kaum noch geschlechtsbezogene Ungleichbehandlungen auf[29] und doch fühle ich mich nicht gleichberechtigt. Frauen leisten nach wie vor den Großteil unbezahlter Care-Arbeit, um genau zu sein 43,8 %.[30] Ich besuche Veranstaltungen zu Lebenswegen von Juristinnen, um Vorbilder zu finden, die es an juristischen Fakultäten durch eine deutliche Mehrheit männlicher Professoren kaum gibt. Ich hoffe später mal auf einer Couch sitzend von der Vergangenheit erzählen zu können, in der wir noch nicht gleichberechtigt waren. Wie es war, als Frau nie genug zu sein und wie schön es ist, dass wir jetzt anders leben. Ich möchte vom Gleichberechtigungsgrundsatz erzählen und wie dieser der Anfang unserer – hoffentlich – gesamtgesellschaftlich gleichberechtigten Zukunft war.


Quellenverzeichnis


[1] kurz&knapp/Bundeszentrale für politische Bildung, Gleichberechtigung wird Gesetz, 2018

[2] Nußberger, in: Sachs, GG Art. 3 Rn. 227.

[3] Sturm, Bundeszentrale für politische Bildung, 2008.

[4] Hebel, Das Frauenstudium, 2023.

[5] Hebel, Das Frauenstudium, 2023.

[6] Rust, APuZ 2002, 26 (S. 29).

[7] Wenzel/Wolff, Digitales Deutsches Frauenarchiv, 2022.

[8] Wenzel/Wolff, Digitales Deutsches Frauenarchiv, 2022.

[9] Sacksofsky, IzpB 2020, 54.

[10] Vgl. BVerfGE 3, 225.

[11] Rust, APuZ 2002, 26 (S. 31).

[12] Vgl. kurz&knapp / BfpB, Gleichberechtigung wird Gesetz, 2018.

[13] Gerhard, APuZ 2008, 3 (S. 4).

[14] Vgl. BVerfGE 10, 59.

[15] § 1355 Satz 2 BGB a.F. (1958).

[16]  Vgl. BVerfGE 48, 327 (S. 335).

[17] Gerhard, APuZ 2008, 3 (S. 4).

[18] Deutscher Bundestag, Vor 45 Jahren: Bundestag reformiert das Ehe- und Familienrecht, 2021.

[19] Vgl. § 1356 Absatz 1 Satz 2 BGB a.F. (1958).

[20] Vgl. § 1356 Absatz 1 Satz 1 BGB a.F. (1977).

[21] Deutscher Bundestag, Vor 45 Jahren: Bundestag reformiert das Ehe- und Familienrecht, 2021.

[22] Vgl. § 1355 Absatz 2 Satz 2 BGB a.F. (1976).

[23] Vgl. BVerfGE 84, 9.

[24] Vgl. BVerfGE 48, 327.

[25] Beispielhaft: BVerfGE 3, 225, BVerfGE 10, 59, BVerfGE 48, 327, BVerfGE 85, 191.

[26] Vgl. BVerfGE 85, 191.

[27] Langenfeld, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG Art. 3 Abs. 2 Rn. 20.

[28] Vgl. Schmidt, in: ErfK, GG Art. 3 Rn. 88.

[29] Sacksofsky, IzpB 2020, 54.

[30] Statistisches Bundesamt, Zeitverwendungserhebung 2022.

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