Erna Scheffler und der väterliche Stichentscheid (BVerfGE 10, 59)

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Im Juli 1959 erklärte Dr. Erna Scheffler – mit einem Lächeln im Gesicht[1] – den familienrechtlichen Stichentscheid des Vaters in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts für verfassungswidrig. Ein bedeutendes Urteil für Frauen und Mütter, das auch Jahrzehnte nach Verkündung an Relevanz nicht verloren hat.


Dieser Beitrag entstand im Rahmen des 5. juriosen Essay-Wettbewerbs “Frau im Recht” zum Internationalen Frauentag 2024. Es handelt sich um den dritten Platz in der Kategorie “Frauenbiografien”. Weitere Informationen zum Essay-Wettbewerb und alle anderen Gewinner-Texte finden Sie hier: https://jurios.de/essay-wettbewerb/


Doch wie kam es dazu? Wer war Erna Scheffler? Und was war der väterliche Stichentscheid?

„Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ heißt es in Art. 3 II GG. Für diesen Satz hatte sich insbesondere Elisabeth Selbert lange Zeit bei der Konstituierung des Grundgesetzes eingesetzt. Zeitgleich wurde dem Bundestag in Art. 117 I GG der Auftrag erteilt, das Familienrecht an das Gleichberechtigungsgebot anzupassen. 1958 wurden zwei Normen geändert, die die elterliche Gewalt und die Vertretung des Kindes regeln sollten.

Stichentscheid des Vaters

„Können sich die Eltern nicht einigen, so entscheidet der Vater; er hat auf die Auffassung der Mutter Rücksicht zu nehmen“ lautete § 1628 BGB, der sogenannte Stichentscheid des Vaters. „Die Vertretung des Kindes steht dem Vater zu; die Mutter vertritt das Kind, soweit sie die elterliche Gewalt allein ausübt oder ihr die Entscheidung nach § 1628 II, III übertragen ist“ heißt es in § 1629 I BGB.

Zwei Normen, die nach heutiger Rechtsauffassung eindeutig nicht mit dem Gleichbehandlungsgebot des Grundgesetzes vereinbar sind, die allerdings im europäischen Vergleich auch nicht unüblich waren. Den väterlichen Stichentscheid kannte das französische, österreichische und griechische Recht in sehr ähnlicher Form. Nur die skandinavischen Staaten waren Vorreiter in Sachen Gleichberechtigung und hatten diese Gesetze bereits in den 1920er-Jahren abgeschafft.

Vier Mütter legten gegen diese Änderungen schließlich Verfassungsbeschwerde ein. Bevollmächtigte Beschwerdeführerin war unter anderem die Rechtsanwältin Hildegard Gethmann. Diese hatte sich bereits zuvor politisch dafür eingesetzt, die Gleichberechtigung der Frau durchzusetzen, Bundeskanzler Adenauer dazu aufgefordert, ein Ministeramt mit einer Frau zu bekleiden und im Jahr 1948 die Gründungsinitiative für den Deutschen Juristinnenbund gegeben.

Verstoß gegen Gleichbehandlungsgrundsatz

Nicht nur die vier Frauen, die die Verfassungsbeschwerde eingelegt hatten, auch die Gerichte in erster Instanz sahen die Neuregelungen als unvereinbar mit dem Gleichbehandlungsgebot und Art. 6 II GG. Das Verfahren kam zur Entscheidung vor das Bundesverfassungsgericht.[2] Dort wurde Dr. Erna Scheffler zur einzigen weiblichen Berichterstatterin ernannt. Den Stichentscheid des Vaters hielt sie von Beginn an für eindeutig verfassungswidrig, doch wurde sie zunächst nur von einem Kollegen im Senat unterstützt. Mit umfassenden Ausführungen gewann sie schließlich die anderen Richter für ihre Ansicht. Sie verkündete auch ein Jahr später als Vertretung des erkrankten Präsidenten das Urteil: Die §§ 1628, 1629 I BGB sind unvereinbar mit dem Grundgesetz und somit nichtig.

Nicht nur der Inhalt des Urteils war bedeutend und historisch, es war auch die erste  höchstrichterliche Urteilsverkündung einer Frau in der Bundesrepublik – wenn auch nur vertretungsweise.

Bereits 1950 sprach Erna Scheffler sich in einer Rede auf dem 38. Juristentag deutlich gegen den väterlichen Stichentscheid aus. Hierfür formulierte sie auch Reformvorschläge für das BGB. Unter anderem sollte es möglich werden, dass Frauen bei der Eheschließung ihren Namen behalten oder einen Doppelnamen annehmen können. Diese Forderung wurde erst 1977 umgesetzt – 27 Jahre nachdem Erna Scheffler diese öffentlich forderte.

Lange Zeit setzte sie sich auch für die Möglichkeit der Teilzeitarbeit von Beamtinnen ein, um eine Vereinbarung von Familie und Beruf zu ermöglichen.

Erste Frau am Bundesverfassungsgericht

Aber wie kam Erna Scheffler überhaupt als erste Frau an das Bundesverfassungsgericht?Nachdem ihr Vater früh starb, die Mutter größtenteils rechtlos wurde und der Familie ein Vormund zugeteilt wurde, beschloss sie als junges Mädchen etwas für die Gleichberechtigung der Frauen und gegen die Abhängigkeit von Männern zu tun. Sie legte das Abitur 1910 extern an einem Knabengymnasium ab und begann in Breslau Rechtswissenschaften zu studieren. Frauen durften dieses Fach erst seit wenigen Jahren studieren und so war Erna Scheffler die einzige Frau an der juristischen Fakultät. Später wird sie sagen, dass sie von Kommilitonen und Professoren ignoriert wurde; es wurde im ganzen Vorlesungssaal mit den Füßen gescharrt, wenn sie ihn betrat. Frauen durften weder das Staatsexamen abschließen, noch als Rechtsanwältinnen oder Richterinnen arbeiten. Erna Scheffler beendete das Studium daher 1915 mit der Promotion. Diese schloss sie mit magna cum laude ab. Ein Jahr zuvor waren es reichsweit nur zwölf Frauen, die in Rechtswissenschaften promoviert wurden. 1922 wurden Frauen schließlich zum Staatsexamen zugelassen.

Mit 32 Jahren war Erna Scheffler nun promoviert und hatte als mittlerweile alleinerziehende Mutter beide Staatsexamina bestanden. Das Mindestalter für den Beamtendienst lag jedoch bei 35 Jahren, sodass sie noch nicht Richterin werden konnte. Stattdessen machte sie sich mit einer Kanzlei in Berlin selbstständig, bis sie 1932 zur Amtsgerichtsrätin ernannt wurde. Das berufliche Glück währte nicht lang. Nur ein Jahr später wurde Erna Scheffler von den Nationalsozialisten zwangsweise beurlaubt – ihr Vater war nach nationalsozialistischer Ansicht  jüdisch. Auch die Ehe zu ihrem zweiten Mann wurde ihr untersagt.

Erna Schefflers Leben war bis dahin bereits von Durchhaltevermögen und Beharrlichkeit geprägt und sie ließ sich auch in dieser Situation nicht unterkriegen. Nach Kriegsende heiratete sie und trat wieder in den Justizdienst ein. Sechs Jahre später kam die Berufung an das Bundesverfassungsgericht. Dort blieb sie zwölf Jahre lang die einzige Frau in einem sonst ausschließlich männlich besetzten  Gericht. Das Urteil zum väterlichen Stichentscheid wird sie später die „Krönung ihres Werkes“ nennen.

“Die Krönung ihres Werkes”

Es sei aber auch unausweichlich gewesen, sagte Erna Scheffler in einem Radiointerview. Sie würde es leichter hinnehmen, wenn ihr „der ein oder andere Beruf“ verschlossen wäre oder ihr Mann ihr Vermögen verwalte, als wenn der Vater gegen ihren Willen und ihre Überzeugung vom Wohle des Kindes etwas bestimmen könne: „Die Zurücksetzung der Mutter ist für mein Gefühl die empfindlichste Zurücksetzung der Gleichberechtigung der Frau, die überhaupt gedacht worden war.“[3]

Das Urteil führte dazu, dass das Elternrecht nicht mehr als Herrschaftsrecht der elterlichen Gewalt angesehen wurde, sondern als dienendes Recht der elterlichen Sorge.[4] Mütter wurden in einer immer noch patriarchalen Zeit der Ära Adenauer unabhängiger von ihren Männern – ein Durchbruch in der Emanzipation und Gleichberechtigung. Jahrzehnte später, zum Beispiel in weiteren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum ehelichen Namensrecht 1991 wurde sich noch auf das Urteil zum väterlichen Stichentscheid aus 1959 berufen.

Es stellt somit einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Gleichberechtigung der Geschlechter in der jungen BRD dar. Nicht zuletzt ist dies auch Erna Schefflers Verdienst. Ihr Leben war geprägt von Durchsetzungsvermögen sowie langen, zähen und hartnäckigen Kämpfen für die Gleichberechtigung in Sitzungssälen gefüllt mit Männern. Ihre Bestrebungen und progressiven Ansichten waren und sind bewundernswert und vorbildlich.

Erna Scheffler starb 1983 bei ihrer Tochter und ihren Enkeln in London.

Wo bleibt der Fortschritt?

Doch was geschah nach ihr? Der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts wies 35 Jahre lang eine Frauenquote von 0% auf. Dem ersten Senat gehörte in diesem Jahrhundert für fünf Jahre erneut lediglich eine Richterin an. Am Bundesfinanzhof sind heute weniger als ein Drittel der Richter:innen Frauen.

Wo ist also der Fortschritt?

Erna Scheffler sagte 1959 in einem Interview: „Wir können froh sein, wenn immer eine von uns da ist, um unsere Ansichten zur Geltung zu bringen.“[5]

Die Frage nach Fortschritten in der Gleichberechtigung ist also auch eine der Perspektive.Der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts ist heute paritätisch besetzt. Gleiches gilt für das gesamte Bundessozialgericht, an dem sogar mehr Frauen als Männer Vorsitzende Richterinnen sind. An vielen Gerichten in erster Instanz sind Frauen mittlerweile in der Überzahl. Auch die Anzahl zugelassener Rechtsanwältinnen steigt seit geraumer Zeit stetig an. 2022 waren 36,2% der in Deutschland zugelassenen Rechtsanwält:innen weiblich. Ein Anstieg von über 30% im Vergleich zur Frauenquote aus dem Jahr 1970. In zahlreichen Projekten wird für mehr Frauen in diesem Bereich geworben. Das Netzwerk für Frauen in juristischen Berufen oder in der juristischen Ausbildung war noch nie so groß wie heute.

Positive Entwicklungen, die nicht zuletzt Frauen wie Erna Scheffler zu verdanken sind und uns hoffnungsvoll in die Zukunft blicken lassen.


[1] Vater und Mutter sollen gemeinsam entscheiden, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.7.1959, S. 1.

[2] Ein Meilenstein der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – Das Urteil zum väterlichen „Stichentscheid“ von 1959, BArch, B 237/90029.

[3] Meilenstein der Rechtsprechung: Mütter und Väter gleichberechtigt. Gespräch mit Erna Scheffler in SR Retro, https://www.ardaudiothek.de/episode/sr-retro-frauenfunk/meilenstein-der-rechtsprechung-muetter-und-vaeter-gleichberechtigt-oder-gespraech-mit-erna-scheffler/sr/12420539/ (zuletzt abgerufen am 26.02.2024).

[4] Ein Meilenstein der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – Das Urteil zum väterlichen „Stichentscheid“ von 1959, BArch, B237.

[5] Erna Scheffler: Einzige Frau im höchsten Gericht, Interview vom 24. 10. 1959, SR Retro, https://www.sr-mediathek.de/index.php?seite=7&id=124888 (zuletzt abgerufen am 26.02.2024).

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