Der Gleichstellungsgrundsatz und Dr. Elisabeth Selbert

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„Es ist ein grundlegender Irrtum bei Gleichberechtigung von der Gleichheit auszugehen. Die Gleichberechtigung baut auf der Gleichwertigkeit auf, die die Andersartigkeit anerkennt.“

Dr. Elisabeth Selbert, eine der vier Mütter des Grundgesetzes

Seit rund 75 Jahren ist der Gleichstellungsgrundsatz im deutschen Recht verankert und auch heutzutage üben gerade jungen Frauen einen regelrechten Befreiungsschlag gegen patriarchisch geprägte Systeme aus. Man möchte meinen, dass wir längst an einen Punkt in der Gesellschaft angekommen sind, an dem die Notwendigkeit eines solchen Einsatzes nicht mehr erforderlich ist und Frauen selbstverständlich dieselben Rechte zugesprochen werden wie ihren männlichen Zeitgenossen.

Doch jüngste politische und gesellschaftliche Weltgeschehen zeigen, dass noch ein langer Weg vor uns liegt und Frauen mehr denn je um ihre Rechte kämpfen müssen. Gerade Unterdrückung, Sexismus, Ausbeutung und Diskriminierung sind für viele Frauen Alltag. Dabei spielt es keine Rolle, ob wir in den Iran blicken, wo Frauen systematisch unterdrückt und terrorisiert werden, indem sie dem Kopftuchzwang unterliegen, ihnen Bildung versagt wird und sie bei Missachtung den Tod fürchten müssen oder nach Amerika, wo der Supreme Court erst kürzlich das verfassungsrechtlich verankerte Recht auf Abtreibungen aufgehoben hat und somit drastische Folgen für ungewollt Schwangere nach sich zieht.

Auch in Deutschland gibt es alltägliche Übergriffe und Gewalt gegen Frauen, werden Femizide verübt und Frauen systematisch benachteiligt, beispielsweise wenn es um Care Arbeit oder Altersvorsorge geht. Mögen die einzelnen Benachteiligungen zwar ganz unterschiedliche Dimensionen aufweisen, so ist dies jedoch ein Zeugnis des alltäglichen Unrechts gegen Frauen und gegen die Gleichberechtigung. Daher soll die nachfolgende Geschichte vor allem Mut machen und beweisen, welchen Einfluss jede einzelne Frau haben kann, wenn sie sich ihrer Stimme bemächtigt und sich aktiv für ihr Recht und gegen das Unrecht einsetzt.


Dieser Beitrag entstand im Rahmen des 5. juriosen Essay-Wettbewerbs “Frau im Recht” zum Internationalen Frauentag 2024. Es handelt sich um den zweiten Platz in der Kategorie “Frauenbiografien”. Weitere Informationen zum Essay-Wettbewerb und alle anderen Gewinner-Texte finden Sie hier: https://jurios.de/essay-wettbewerb/


Dr. Elisabeth Selbert – eine beeindruckende Frau

Dass Engagement und unermüdlicher Einsatz belohnt werden, zeigt uns die eindrucksvolle Lebensgeschichte von Elisabeth Selbert, die am 22. September 1896 im Kassel das Licht der Welt erblickte und später als promovierte Juristin und eine der Mütter des Grundgesetzes in die Geschichtsbücher eingehen wird. „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Dass dieser Satz so im Artikel 3 II des Grundgesetzes verankert ist, haben wir ihr zu verdanken. Elisabeth Selbert war schon als junges Mädchen gut in der Schule, musste diese jedoch – für Mädchen damals üblich – vorerst ohne Abschluss verlassen, um kurz danach in das Arbeitsleben einzusteigen. Unmittelbar nach Beginn des Ersten Weltkrieges verliert sie ihre Anstellung als Auslandskorrespondentin und wird schließlich aufgrund von kriegsbedingten Personalmangel als Postgehilfin eingesetzt. 1918 lernt sie ihren späteren Ehemann Adam Selbert kennen, tritt der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) bei, heiratet, bekommt zwei Kinder und holt schließlich ihren Abiturabschluss nach, um Jura zu studieren. Nach erfolgreichem Studium und Promotion beginnt ihr geschichtsträchtiger Kämpf für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern.

Novellierung des Gleichheitsgrundsatzes

Ende 1948 ist sie bereits ein fester Bestandteil der politischen Gesellschaft Deutschlands. Als im Ausschuss für Grundsatzfragen aufgrund eines Entwurfs zur Novellierung des Gleichheitsgrundsatzes diskutiert wird, gelangt man zu dem ersten Formulierungsvorschlag: „Männer und Frauen haben dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten.“ Elisabeth Selbert wittert die Folgen aus diesem Wortlaut und geht entschieden in den Protest. Ihr Einwand beruht auf der Annahme, dass diese Formulierung juristisch sehr eng ausgelegt wird und Frauen somit lediglich das bestehende Recht hätten, wählen zu gehen und selbst gewählt zu werden. Eine Gleichstellung darüber hinaus würde allerdings nicht stattfinden. Ihre Ablehnung für den Vorschlag trifft auf großes Unverständnis, selbst bei ihren weiblichen politischen Kolleginnen. Man befürchtet ein „Rechtschaos“ durch den von Elisabeth Selbert vorgeschlagenen Gleichstellungsgrundsatz: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“

Es folgt ein weiterer Formulierungsvorschlag: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Das Gesetz muss Gleiches gleich, es kann Verschiedenes nach seiner Eigenart behandeln.“ Doch auch diese Umschreibung der Gleichstellung ist für sie inakzeptabel. Ende 1948 bringt Elisabeth Selbert ihren Vorschlag zur Gleichberechtigung erneut in den Ausschuss für Grundsatzfragen ein, jedoch dieses Mal in den Hauptausschuss selbst. Trotz einer fundierten und schlüssigen Begründung für ihre Formulierung verliert ihr Vorschlag schließlich mit elf zu neun Stimmen, wobei sie auch hier nicht auf die geschlossene Einigkeit ihrer weiblichen Kolleginnen zählen kann. Viel zu groß ist die Sorge vor dem Aufwand der Gesetzesänderungen und den daraus resultierenden Folgen für das Rechtssystem. Obwohl der Zuspruch bisweilen verhalten ist, entschließt sich Selbert schließlich zu einer Offensive und reist durch das ganze Land, um die bürgerlichen Frauen über ihr Vorhaben zu informieren und diese zu mobilisieren, für ihr Recht auf Gleichstellung zu kämpfen.

Frauen protestieren für ihr Recht

Es folgt eine regelrechte Protestwelle aus der weiblichen Bevölkerung. Unzählige Zuschriften erreichen den Parlamentarischen Rat und geben dem Vorschlag von Elisabeth Selbert recht. Schließlich ist der öffentliche Druck so groß, dass der Antrag letztendlich doch einstimmig angenommen wird.

„Ich hatte nicht geglaubt, dass 1948/49 noch über die Gleichberechtigung überhaupt diskutiert werden müsste und ganz erheblicher Widerstand zu überwinden war! Aber ich habe es dann doch mit der Hilfe der Proteste aller Frauenverbände geschafft. Es war ein harter Kampf, wie die Protokolle des Parlamentarischen Rates beweisen.“

Auszüge aus Tonbandprotokollen mit Dr. Elisabeth Selbert, in: Barbara Böttger: das Recht auf Gleichheit und Differenz. Elisabeth Selbert und der Kampf der Frauen um Art. 3 II Grundgesetz, Münster 1990, S. 166.

Die Lebensgeschichte von Elisabeth Selbert verdeutlicht sehr eindrucksvoll, welche Hebel in Bewegung gesetzt werden können, selbst wenn der Kampf schier aussichtslos erscheint. Ihr Lebensweg allein ist für damalige Verhältnisse eindrucksvoll genug, doch wirklich bewundernswert ist, mit welchem klaren Rechtsverständnis sie ihren Kampf für die Gleichstellung von Frauen und Männern bestritten hat. Weder damals noch heute geht es darum, Männer und Frauen zu spalten. Es geht vielmehr darum, die Gesellschaft nachhaltig zum Wohle aller zu formen.

Die Lehre vom Yin und Yang

Die Lehre von Yin und Yang beweist, dass das eine nicht ohne das andere existieren kann. So braucht auch eine intakte Gesellschaft die Kräfte beider, nämlich von Männern und Frauen. Nur gemeinsam können wir es schaffen, die besten Seiten in uns hervorzuheben, voneinander zu lernen und in Einheit und Harmonie zusammenzuleben. Eine Separation beider Geschlechter ist demnach unter dem Grundsatz des Dualismus nicht von der Natur vorgesehen. Als Gesellschaft sollten wir uns daher stets fragen, welche Lektionen wir voneinander lernen können und wie wir es schaffen, einander mit Respekt und Verständnis zu begegnen, da letztendlich beide Seiten davon profitieren.

„Ich spreche aus dem Empfinden einer Sozialistin heraus, die nach jahrzehntelangem Kampf um die Gleichberechtigung nun das Ziel erreicht hat. Nur in der Synthese männlicher und weiblicher Eigenart, aufgebaut auf dieser Gleichberechtigung von Mann und Frau, sehe ich den Fortschritt im politischen, staatlichen und überstaatlichen Leben und auch in der Ehe, als der kleinsten Zelle der Gemeinschaft…“

Rundfunkansprache von Elisabeth Selbert am 19.01.1949, in: Barbara Böttger: das Recht auf Gleichheit und Differenz, Elisabeth Selbert und der Kampf der Frauen um Art. 3 II Grundgesetz, Münster 1990, S. 225.

Schlussendlich widme ich dieses Essay allen starken Frauen und Männern der Welt, die sich gegen die Unterdrückung des weiblichen Geschlechts einsetzen und auch denen, die ihre Stärke erst noch in sich finden müssen. Elisabeth Selbert hat uns gezeigt, dass jede von uns die Kraft besitzt, Wunder zu bewirken und so hoffe ich, dass die Leser und Leserinnen sich ein Beispiel nehmen und für ihre Überzeugungen einstehen. Zusammen sind wir stark!


Quellen und Literatur:

Trösch, Sven/Haunhorst, Regina: Biografie Elisabeth Selbert, in: LeMO-Biografien, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/biografie/elisabeth-selbert.html
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Weis, Natalie: Vor 75 Jahren: Gleichberechtigung im Grundgesetz, in Deutscher Bundestag, 15.01.2024, URL: https://www.bundestag.de/resource/blob/986330/4b1549fe0e1041daa5bce5c2b68557d7/Vor-75-Jahren-Gleichberechtigung-im-Grundgesetz.pdf

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Schwartau, Stadt Bad: Dr. Elisabeth Selbert, in: Bad Schwartau, o. D., URL: https://www.bad-schwartau.de/Rathaus/Gleichstellungsstelle/Aufgabe/Dr-Elisabeth-Selbert/#:~:text=%E2%80%9EEs%20ist%20ein%20grundlegender%20Irrtum,%E2%80%9C.

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Wolff, Cornelia Wenzel Dr. Kerstin: Dr. Elisabeth Selbert, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv, 22.09.2022, URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/akteurinnen/elisabeth-selbert#actor-quotations.

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