Vom Gärtner, dem Ungetüm und dem Buch mit sieben Siegeln

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Für eine gute Prüfungsvorbereitung sind Fallbeispiele unverzichtbar. Auch hier gilt, dass die besten Fälle noch immer vom Leben selbst vorgegeben werden. Besonders einprägsam sind dabei immer solche Fälle, die dem Leser kurios vorkommen. Das kann am Sachverhalt selbst liegen, was der berühmte Katzenkönigfall nachhaltig demonstriert. Manchmal sind es aber gerade die Entscheidungsgründe, welche eine Lektüre kurzweilig machen und im Gedächtnis verankern. Eine solche Entscheidung des Sozialgerichts Karlsruhe wird hier vorgestellt. Es ist dabei nicht wichtig, ob sich der Leser in der Materie des Sozialrechts bereits auskennt, da es sich um eine übliche Konstellation des Verwaltungsverfahrensrechts handelt, nämlich die Berücksichtigung von Vertrauensschutz bei der Rücknahme von Verwaltungsakten.

Gelernter Gärtner, der als Maler arbeitete, erhält zu viel Rente

Beim Kläger handelt es sich um einen gelernten Maler, der jedoch die letzten 30 Jahre seines Berufslebens als Gärtner gearbeitet hat. Nach Eintritt in den Ruhestand stand ihm eine monatliche Altersrente in Höhe von 1.244,75 EUR zu. Tatsächlich wurde ihm aber eine um ca. 80 EUR höhere Rente monatlich bewilligt und ausgezahlt. Der Behörde war nämlich bei Bearbeitung des Antrags ein gedanklicher Fehler unterlaufen. Aufgrund eines etwa 25 Jahre zurückliegenden Scheidungsurteils war ein Teil der dem Kläger bis zur Scheidung entstandenen Rentenanwartschaften auf seine geschiedene Ehegattin übertragen worden. Die Höhe dieser durch Scheidung „verlorenen“ Anwartschaft wurde aber bei Berechnung der Rente nicht in Abzug gebracht, sondern im Gegenteil hinzugerechnet. Dem Kläger fiel die um etwa 80 EUR monatlich höher ausgefallene Berechnung gar nicht auf, der Behörde immerhin nach etwa zwei Jahren.

Für Examenskandidaten wird es jetzt interessant – was wäre aus Sicht der Behörde zu tun? Der eine Begünstigung (Rentenzahlung) enthaltende Bewilligungsbescheid ist unrichtig und es muss geprüft werden, ob und in welchem Umfang er geändert werden muss. Ebenfalls ist zu entscheiden, ob und wie die Überzahlung rückgängig gemacht werden kann. In einer solchen Konstellation unterscheidet sich die Lösung im Sozialverwaltungsverfahrensrecht nicht erheblich von den bekannten Fällen im (allgemeinen) Verwaltungsverfahrensrecht.

Rücknahme des Verwaltungsaktes

Der Verwaltungsakt muss aus Sicht der Behörde korrigiert werden. Der Korrektur steht aber seine andauernde Wirksamkeit (§ 39 Abs. 2 SGB X bzw. § 43 Abs. 2 VwVfG) entgegen. Bei von Anfang an fehlerhaften und somit rechtswidrigen Verwaltungsakten wird die Wirksamkeit durch die Rücknahme des Verwaltungsaktes beseitigt, was den Anwendungsbereich des § 45 SGB X (der im Wortlaut § 48 Abs. 1 Satz 2 VwVfG ähnelt) als Ermächtigungsgrundlage für den aufhebenden Verwaltungsakt eröffnet. Für die Rückforderung enthält § 50 SGB X die maßgebliche Ermächtigungsgrundlage (ähnlich § 49a VwVfG!), die tatbestandlich die rückwirkende Aufhebung des Bewilligungsaktes voraussetzt.

Zu diesem Ergebnis kam auch die Rentenversicherung und nahm den ursprünglichen Bescheid über den gesamten Zeitraum zurück, berechnete die Rente neu und verlangte schließlich den überzahlten Betrag von inzwischen 6.700,00 EUR unter Berücksichtigung eines behördlichen Mitverschuldens zurück.

Der Kläger wollte den trotzdem verbliebenen Rückforderungsbetrag in Höhe von ca. 4.500 EUR unter Berufung auf Vertrauensschutz nicht bezahlen. Dieses Recht hat er, die §§ 44 ff SGB X (ebenso die §§ 48, 49 VwVfG) dienen dem Ausgleich der beiden Verfassungsprinzipien der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns und des Vertrauensschutzes. Beides ist abgeleitet aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG).

Für den Fall eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes hat der Gesetzgeber dem Vertrauensschutz den Vorrang eingeräumt, wenn das bestehende Vertrauen schutzwürdig ist. Die Voraussetzungen dafür sind in § 45 Abs. 2 SGB X formuliert, der in weiten Teilen mit dem Wortlaut des § 48 Abs. 2 VwVfG übereinstimmt. Für die Prüfung ist in einem ersten Schritt zu fragen, ob der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsakts vertraut hat. Das ist gewöhnlich unproblematisch, allerdings ist eine Berufung auf dieses bestehende Vertrauen in bestimmten vom Gesetz vorgesehenen Fällen nicht möglich. Oftmals stellt sich in Prüfung und Praxis die Frage, ob der Begünstigte denn nicht die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder sie jedenfalls infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Das schließt Vertrauen nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X (§ 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 VwVfG) aus.

Vertrauensschutz: Ja, nein, vielleicht?

Jetzt wird es spannend! Die Behörde unterstellte dem Kläger eine solch grob fahrlässige Unkenntnis. Auf Seite 28 des im Übrigen 34 Seiten langen Bescheides hätte der Fehler erkannt werden können. Dort stand nämlich klar und deutlich, dass wegen des scheidungsbedingten Versorgungsausgleichs ein „Zuschlag zu Gunsten“ des Rentenbeziehers vorgenommen wurde. Richtig wäre natürlich ein „Abschlag zu Lasten“ gewesen.

Nach Ansicht der Rentenversicherung hätte das dem Bezieher bei sorgfältigem Studium des Bescheides nicht nur auffallen, sondern sogar „einleuchten“ müssen. Zu einem solch sorgfältigen Studium verpflichte ihn das Gesetz. Und tatsächlich definiert § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr.3 SGB X grobe Fahrlässigkeit als Verletzung der erforderlichen Sorgfalt in besonders schwerem Maße. Es kommt also darauf an, welche Sorgfalt bei einem 34 Seiten langen Rentenbescheid zugrunde zu legen ist.

34 Seiten langer Rentenbescheid “umfangreich und schwer verständlich”

Das Gericht trat der Ansicht der Behörde jedenfalls entschieden entgegen. Ebenjener Sorgfaltsmaßstab sei nicht objektiv, sondern individuell zu bestimmen. Maßstäblich seien die Erkenntnisfähigkeit des Adressaten sowie der Schwierigkeitsgrad der Materie anderseits. Hiernach könne von einem „durchschnittlichen Rentenversicherten“ jedenfalls nicht verlangt werden, einen „umfangreichen und schwer verständlichen Altersrentenbescheid“ aufmerksam zu lesen.

Die Zurechnung des Klägers zu diesem durchschnittlichen Personenkreis begründet das Gericht nicht gerade schmeichelhaft. Als gelernter Maler und ungelernter Gärtner sei er im Wesentlichen geistig wenig anspruchsvoll beruflich tätig gewesen. Somit handele es sich um einen „ausgesprochen ungebildeten Maler bzw. ungelernten und einigermaßen betagten Gärtner“ mit „sehr niedrigem Bildungsniveau“, „spärlicher Bildungsbiografie“ und „vorzeitig beendeter Bildungskarriere“.

Mit markigen Worten wird dem der Schwierigkeitsgrad der Regelungsmaterie gegenübergestellt. Bei Rentenbescheiden handele es sich um ein für breite Bevölkerungsschichten „bürokratisches und schlechterdings unbegreifliches Ungetüm“. Selbst ein wiederholtes Studium „wieder und wieder“ sei im Hinblick auf ein zu erreichendes Verständnis vollkommen sinnlos. Die Kammer bedient sich zur Verstärkung der Argumentation eines Konstruktes aus dem Strafrecht und bezeichnet es für Personen wie den Kläger als „untauglichen Versuch“, ein solches Verständnis für den Bescheid zu entwickeln. Der Sorgfaltspflicht sei Genüge getan, wenn nach der probeweisen Lektüre der ersten beiden ein bis zwei Seiten Abstand von weiterer Lektüre genommen werde. Ohne ausführliche Beratung nach § 14 SGB I (hier einmal eine Besonderheit zum allgemeinen Verwaltungsrecht) bliebe das stets ein Buch mit sieben Siegeln.

Nicht mal ein Sozialrichter hätte den Fehler bemerkt

Diese Ausführungen sind für sich genommen vollkommen überzeugend und die Begründung hätte hier enden können. Das tut sie aber nicht, und es muss Spekulation bleiben, was ausschlagend für die weiteren Ausführungen gewesen sein mag. Zu vermuten ist, dass Dissens zwischen Gericht und der Vertretung der Rentenversicherung über die persönliche Einvernahme des Klägers durch das Gericht zur Bewertung von dessen individueller Erkenntnisfähigkeit bestand. Auch scheint die Rentenversicherung im Prozess unvorsichtigerweise darauf verwiesen zu haben, dass der Fehler auf Seite 28 des Bescheides dem Kläger auf jeden Fall hätte einleuchten müssen. Jedenfalls lädt das Gericht nochmal nach und feuert rhetorisch eine Kanonade ab, die auch einen deutlichen Grad an Unzufriedenheit über die Erwartungshaltung von Dienstherrn und Behörde an einen sich selbst der „einschlägig spezialisierten Landeselite“ zurechnenden Sozialrichter erkennen lässt.

Schon formal bedürfe es aufgrund der offenkundig sehr spärlichen Erwerbsbiografie des Klägers keines richterlichen Eindrucks aus einer persönlichen Anhörung, zumal tatrichterliche Volljuristen ohnehin nicht über die neuropsychologische oder wenigstens schauspielerische Fachkompetenz verfügen würde. Insoweit würde der Tatrichter maßlos überschätzt. Er könne mit seinem professionellen Blick nicht erkennen, was nicht einmal fachkundige Gutachter unter Einbeziehung „wissenschaftlich fundierter Testbatterien“ zutage fördern könnten.

Außerdem hegt das Gericht Zweifel daran, dass selbst ein qualifizierter Sozialrichter den Fehler im Bescheid ohne weiteres hätte erkennen können. Das beginne schon mit der Materie des Versorgungsausgleichs. So beherrschten selbst doppelt staatsexaminierte Volljuristen das hochkomplexe Rechtsinstitut des Versorgungsausgleichs regelmäßig selbst dann allenfalls in Grundzügen, wenn sie „zufällig“ einen familienrechtlichen oder sozialrechtlichen Studienschwerpunkt gewählt und fachlich überdurchschnittlich begabt wären. Der Leser aus der Praxis wird hier nur zustimmend nicken können. Wie solle, fährt das Gericht fort, dieser Terminus technicus dann einem Laien zugänglich sein?

Und überdies sei es sogar abwegig, selbst von einem berufserfahrenen erstinstanzlichen Sozialrichter in einem sozialgerichtlichen Rentenverfahren ohne konkreten Anlass die Lektüre eines 34-seitigen Bewilligungsbescheides bis einschließlich der Seite 28 Satz für Satz zu verlangen. Die Dienstzeit sei knapp, die Sozialgerichtsbarkeit sei dafür in quantitativer Hinsicht mangelhaft ausgestattet und vom Haushaltsgesetzgeber im Stich gelassen.

Nach diesen drastischen Ausführungen werden in einem dagegen unspektakulär wirkenden Satz die Rücknahmeentscheidung für die Vergangenheit sowie die Erstattungsentscheidung aufgehoben.


Entscheidung: SG Karlsruhe, Gerichtsbescheid v. 17.12.2021, Az. S 12 R 1017/21

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Prof. Dr. Sven Müller-Grune
Prof. Dr. Sven Müller-Grunehttps://bit.ly/3Xt2OGv
Prof. Dr. iur. Sven Müller-Grune ist Professor für Öffentliches Wirtschaftsrecht an der Hochschule Schmalkalden (Thüringen). Website: www.hs-schmalkalden.de/

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