Wo ist Walter? Was haben „Wimmelbilder“ mit Recht zu tun?

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Kannst Du dich noch an „Walter“ (im Original: „Wally“) erinnern? Die lustige Comicfigur mit der roten Mütze und dem rot-weiß gestreiften Schal? „Wo ist Walter“ ist eine Kinderbuchreihe des Briten Martin Handford, der die Gattung der „Wimmelbild-Literatur“ weltweit berühmt machte. Obwohl es sich dabei um eine Buchserie für Kinder handelt, zog jetzt ein Jurist die Wimmelbilder im Rahmen der „Law and Literatur“ Bewegung als Vergleich heran. Und zeigt dabei einmal mehr auf, wie vielseitig die Beschäftigung mit „Recht und Literatur“ sein kann.

Der Jurist Dr. Heiko Richter LL.M. beschäftigt sich in einem Essay mit der Frage, was Juristinnen und Juristen von Wimmelbildern wie „Wo ist Walter“ lernen können. In „EU Digital Legislation as a ‘‘Wimmelpicture’’? What Children’s Books Can Teach Us About Laws“ zieht er ganz konkret die Wimmelbilder der Künstlerin „R.S. Berner“ heran und vergleicht diese mit der digitalen Gesetzgebung in der EU. Was auf den ersten Blick keinerlei Gemeinsamkeiten aufzuweisen scheint, stellt auf den zweiten Blick eine fantastische Metapher dar.

Richter sprach dazu persönlich mit der heute 75-Jährigen Künstlerin R.S. Berner, um mehr über ihre Arbeit und die Literaturgattung der „Wimmelbilder“ lernen zu können. Sie gilt als eine der angesehensten Kinderbuchillustrator:innen der Welt. Ihr Meisterwerk ist ein vierbändiger Wimmelbild-Zyklus, der die Jahreszeiten darstellt. Im Gespräch konnte Richter folgende Gemeinsamkeiten zwischen Wimmelbildern und dem EU-Recht finden:

Komplexität

Wimmelbilder sind eine komplexe Zusammenstellung verschiedenster Elemente (Hintergründe, Kulissen, Personen, Gegenstände usw.). Sowohl das Ergebnis als auch die Herstellung eines Wimmelbildes zeichnet sich durch höchste Komplexität aus. R.S. Berner konzipierte ihre Jahreszeiten-Wimmelbilder als vierbändiges Fortsetzungswerk. Sie schrieb sich also zunächst ein Drehbuch für alle vier Werke und vergab verschiedene Rollen, sodass die einzelnen Bilder nicht nur aus starren Kulissen bestehen, sondern sich die wiederkehrenden Figuren im Laufe des Jahres weiterentwickeln und miteinander in Beziehung stehen. Richter stellt im Hinblick auf die Komplexität der Materie und ihre Verflechtungen eine große Ähnlichkeit zum EU-Recht der Digitalisierung fest.

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Kohärenz

Ein hohes Maß an Komplexität führt unweigerlich zu der Forderung nach Kohärenz, also dass sowohl das Wimmelbild als auch die digitale EU-Gesetzgebung in sich logisch, zusammenhängend und nachvollziehbar ist. Walters Mütze kann nicht auf dem einen Bild rot-weiß und auf dem anderen Bild rot-blau sein. Inkohärenz führt zu Missgunst und Fehlern in der Realität. Bei Wimmelbildern zu unglücklichen Kindern und in der EU-Gesetzgebung zu ungewollten Schlupflöchern oder Frustration der Bürger:innen mit dem Gesetzgeber.

Was die Gesetze betrifft, ist Kohärenz laut Richter ein verfassungsrechtliches Erfordernis, aber in der Praxis ein selten erreichtes Ideal. Uneinheitlichkeit – sowohl innerhalb von Rechtsakten als auch zwischen ihnen – ist laut Richter sogar ein typisches Merkmal der digitalen EU-Gesetzgebung. Dafür gibt es verschiedene Gründe: beispielsweise horizontale und vertikale Koordinierung mit vielen anderen Rechtsakten, unterschiedliche Terminologien sowie gegensätzliche Rechtskulturen der Mitgliedstaaten usw. Außerdem ist die digitale Regulierung der EU ein Bereich, in dem die Interessen zahlreicher Interessengruppen stark aufeinanderprallen.

Kompromiss

Gesetze sind das Ergebnis eines politischen Kompromisses – ganz besonders auf EU-Ebene. Es gibt keine Einzelperson, die ein digitales EU-Gesetz vollständig verstehen kann und alle Hintergründe der Entstehung kennt. Auch Kinderbücher müssen ganz unterschiedlichen Anforderungen genügen – und sind sogar politisch. Beispielsweise bei der Frage, welcher Erziehungsstil darin vertreten wird. Auch die Autor:innen/Zeichner:innen von Wimmelbüchern müssen in ihrer Kunstwelt deswegen Kompromisse eingehen. Berner wurde beispielsweise gefragt, wieso in ihren Werken so oft Nonnen oder Kirchtürme zu sehen sind, warum im Café geraucht wird oder warum sie zwei Müllmänner (und nicht Frauen) mit Migrationshintergrund gezeichnet hat.

Genauso wie die Abbildungen in Kinderbüchern die Kinder (sowohl positiv als auch negativ) beeinflussen können, die sich die Büchern ansehen, hat auch das EU-Recht laut Richter eine Steuerungsfunktion gegenüber der Gesellschaft.

Neugierde

Kinder lernen durch die Freude am Beobachten und Erforschen – sie sind deswegen die Zielgruppe der Wimmelbilder, die sie spielerisch zum Nachdenken bringen und ihre Fantasie anregen. Wenn es um Gesetze geht, fallen Jurist:innen laut Richter ebenfalls optimalerweise in die Kategorie der kindlichen Rezipienten, bei denen die Herausforderung der Komplexität von Gesetzen pure Begeisterung auslöst. Gerade im Bereich der digitalen Gesetzgebung gibt es aber viele Unsicherheiten und Neuerungen. Nicht immer ist deswegen im Voraus sicher, dass eine Gesetzgebung „gelungen“ ist. Alle Beteiligten werden deswegen eingeladen, während des Gesetzgebungsprozesses und danach immer weiter dazuzulernen.

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Kontinuität

Wimmelbilder bleiben einem ein Leben lang erhalten. Sie prägen die ästhetische Wahrnehmung schon früh – gerne denken wir an unsere Lieblingsbücher im Kindesalter zurück. Lukas der Lokomotivführer, die kleine Raupe Nimmersatt, Pippi Langstrumpf oder Emil und die Detektive. Im Gegensatz dazu sind die digitalen Gesetze der EU laut Richter gerade nicht für die Ewigkeit bestimmt. Die Dynamik des Regelungsgegenstandes veranlasst den Gesetzgeber, die Gesetze immer wieder zu evaluieren und fortzuschreiben. Trotzdem gewöhnen wir uns, so Richter, alle früher oder später an die neuen Regeln und die nächste Generation wird in sie hineingeboren.

Kann uns das Nachdenken über Wimmelbilder helfen, noch deutlicher zu sehen, welche Besonderheiten digitale Gesetze haben? Richter sieht hier wie aufgezeigt viele Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede, die uns zum Nachdenken anregen können. Im Ergebnis wünscht sich Richter, dass sein Gedankenexperiment die Phantasie der Leserinnen und Leser angeregt hat.

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Der Artikel ist im Januar 2024 open access erschienen und kann hier nachgelesen werden: https://link.springer.com/article/10.1007/s40319-023-01421-9

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